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Der Turm der Welt

Roman | Der Tag, der die Zukunft Europas entscheiden wird

©2024 897 Seiten

Zusammenfassung

Ein Sturm braut sich zusammen …

29. Oktober 1889: Die ganze Welt sieht auf Paris, wo Millionen von Menschen dem fulminanten Höhepunkt der großen Weltausstellung entgegenfiebern. Doch hinter der glänzenden Fassade dieser neuen, hoffnungsvollen Zeit brodelt es ... Als zwei Ermittler des französischen Geheimdienstes ermordet aufgefunden werden, setzen die Agenten Alain Marais und Pierre Trebut alles daran herauszufinden, wer hinter dem Attentat steckt. Dabei scheint ihr Schicksal mit dem einiger Besucher verbunden: Da ist eine schöne Kurtisane mit einem dunklen Geheimnis, ein junger Fotograf, der bereit ist, alles für seine Liebe zu tun, eine französische Adelige auf der Flucht vor einem Skandal, ein preußischer Spion mit einem besonderen Auftrag … Sie alle finden sich um Mitternacht am Eiffelturm wieder, wo sich die Zukunft Europas entscheiden soll – oder in Flammen aufgehen wird …

»Vor der Kulisse der Pariser Weltausstellung entwirft Benjamin Monferat in seinem historischen Spionageroman ein Gesellschaftspanorama, das von den Konflikten der Großmächte durchdrungen ist.« Vogue

Ein packender historischer Roman für alle Fans von Ken Follett und John le Carré.

»Eine große schriftstellerische Leistung.« Amazon-RezensentIn

»Ein wahrhaft opulenter Blick auf ein spektakuläres Ereignis der Vergangenheit, das Monferat so gut in Szene setzt, als hätte damals jemand mitgefilmt und das Material zu einer (geschriebenen) IMAX Experience verarbeitet. Exzellent!« Amazon-RezensentIn

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

29. Oktober 1889: Die ganze Welt sieht auf Paris, wo Millionen von Menschen dem fulminanten Höhepunkt der großen Weltausstellung entgegenfiebern. Doch hinter der glänzenden Fassade dieser neuen, hoffnungsvollen Zeit brodelt es ... Als zwei Ermittler des französischen Geheimdienstes ermordet aufgefunden werden, setzen die Agenten Alain Marais und Pierre Trebut alles daran herauszufinden, wer hinter dem Attentat steckt. Dabei scheint ihr Schicksal mit dem einiger Besucher verbunden: Da ist eine schöne Kurtisane mit einem dunklen Geheimnis, ein junger Fotograf, der bereit ist, alles für seine Liebe zu tun, eine französische Adelige auf der Flucht vor einem Skandal, ein preußischer Spion mit einem besonderen Auftrag … Sie alle finden sich um Mitternacht am Eiffelturm wieder, wo sich die Zukunft Europas entscheiden soll – oder in Flammen aufgehen wird …

Über den Autor:

Benjamin Monferat ist das Pseudonym des deutschen Bestsellerautors Stephan M. Rother. Der studierte Historiker war 15 Jahre lang als Kabarettist auf der Bühne unterwegs, bevor er sich im Jahr 2000 dem Schreiben widmete. Seitdem veröffentlichte er zahlreiche erfolgreiche Romane für Erwachsene und Jugendliche. Die Lebensgeschichte seines Großvaters, der im Dritten Reich am Bau luxuriöser Eisenbahn-Waggons beteiligt war und gleichzeitig im Widerstand gegen das Regime einsetzte, inspirierte ihn zu seinem Historien-Epos »Welt in Flammen«.

Bei dotbooks veröffentlichte Benjamin Monferat seine historischen Romane »Der Turm der Welt« und »Welt in Flammen«.

Die Website des Autors: magister-rother.de/

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eBook-Neuausgabe Oktober 2024

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Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung zweier Photochrome von LOC Library of Congress (LC-DIG-ppmsc-05221 / (LC-DIG-ppmsc-05239) sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

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Benjamin Monferat

Der Turm der Welt

Roman

dotbooks.

PROLOG

Die Zeit warf gespenstische Schatten.

Fahles Mondlicht drang durch das Dach der Halle. Widerstand gab es nicht, denn zu diesem Zweck war der Bau ersonnen worden: als Symphonie aus Glas und Stahl. Einem gigantischen Gewächshaus gleich thronte er über seinen mechanischen Bewohnern, die Atem zu schöpfen schienen in rasselnden, zischenden, dampfenden Träumen. Die Galerie des Machines, die Maschinenhalle, war das pochende Herz der Weltausstellung, doch es schlug langsam in der Nacht, viel zu langsam für die menschliche Wahrnehmung. Zwielicht herrschte und Schweigen, wenn die größte Schau, die das Jahrhundert gekannt hatte, ihre Pforten für den Abend geschlossen hatte.

Doch nicht in dieser Nacht. Da war ein Wispern, da waren Fetzen einer Unterhaltung. Da war ein nervöses Räuspern, ein unterdrücktes Hüsteln dann und wann. Und da waren andere, noch undeutlichere Laute, die vage nach einem krampfhaften Schlucken klangen. Als ob ein Mensch sich bemühte, den Inhalt seines Magens dort zu behalten, wo er hingehörte.

In einem weiten Halbkreis umstanden die Männer Berneaus gewaltige mechanische Uhr, jene grandiose Erfindung, die die Zeit mit bis dahin unerreichter Präzision anzuzeigen vermochte. Der mehrere Meter hohe Koloss, der den filigranen Mechanismus hütete, erhob sich an einem Ehrenplatz nahe dem Ende der Halle. Seine kleineren Vettern schienen respektvoll Abstand zu halten.

Nicht anders als die Versammlung der Honoratioren, die Berater des Präsidenten, der Präfekt der Polizei, der Vertreter der Gendarmerie und weitere Offizielle: alle, denen eine Rolle zukam, wenn die Sicherheit der größten Schau der Welt zum Gegenstand wurde. Sie alle hielten Abstand, die Köpfe geneigt, die Zylinderhüte in den Händen. Hielten Abstand nicht allein vom klobigen Körper der Berneau’schen Uhr, sondern selbst von dessen Umriss, den das Licht des Mondes auf das Pflaster malte.

Denn etwas stimmte nicht mit diesem Umriss, ließ sich nicht recht übereinbringen mit dem allseits bekannten Erscheinungsbild, das der große Konstrukteur dem Gehäuse verliehen hatte. Zwei Ausbuchtungen ragten über die Haube hinweg. Ausbuchtungen, die es nicht hätte geben dürfen und die von den Körpern zweier Männer stammten, durchbohrt von den gut daumendicken Zeigern.

Die Versammelten waren von Kurieren aus unterschiedlichen Winkeln der Stadt zusammengerufen worden und hatten die Halle vor etwa zwanzig Minuten gemeinsam betreten. Seitdem verharrten sie in ihrer Formation, während Gendarmen die entfernteren Abschnitte der Halle durchkämmten. Sie schienen auf etwas zu warten.

Ihre gedämpften Gespräche verstummten, als ein neues Geräusch ertönte. Tack tschick-tack, tack tschick-tack. Rhythmisch und exakt. Es hätten die Laute sein können, mit denen eine der komplizierten Apparaturen Fahrt aufnahm – die dampfgetriebene Pflasterverlegemaschine vielleicht oder Le Roys vollautomatisierter Eierkocher, doch den Umstehenden war das rhythmische Geräusch bestens vertraut. Langsam wandten sie sich um.

Der Mann mochte einen Meter sechzig messen, weniger vermutlich, gestützt auf seinen Gehstock, den er mit entschlossenen Bewegungen aufsetzte, Bruchteile von Sekunden, bevor sein rechter Fuß den Boden berührte. Tack tschick-tack, tack tschick-tack. Sein Körper schien ausschließlich aus Haut und Sehnen zu bestehen, die Konzentration so ziemlich das Einzige, was ihn aufrecht hielt. Die Konzentration und der steife Stoff seiner dunklen Uniform, deren Brust mit einer ganzen Batterie militärischer Auszeichnungen geschmückt war.

Einen Atemzug lang nahm er die grauenhaft veränderte Uhrenapparatur in den Blick. Ohne zu blinzeln und scheinbar ohne die Umstehenden wahrzunehmen. Schweigend. Um dann doch zu den Versammelten zu sehen, die einer um den anderen die Augen niederschlugen.

Général Philippe Auberlon stand seit Napoleons Zeiten im Dienste des französischen Staates. Seit den Zeiten des ersten Kaisers Napoleon, wohlgemerkt. Sieben – oder waren es acht? – politische Regime, die aufeinander gefolgt waren, doch von der Politik hatte er stets die Finger gelassen. Er war Soldat, wenn auch sein Kampfplatz nicht das offene Schlachtfeld war. Noch immer, mit weit über neunzig, war er der Mann, in dessen gichtgekrümmten Fingern die Fäden im gewaltigen Apparat des Deuxième Bureau zusammenliefen. Im militärischen Geheimdienst der französischen Republik.

Er betrachtete sie, die Mächtigen der Republik, die nicht auf seine Worte hatten hören wollen. Bis heute. Nun, da sie in ihrer Not nach Philippe Auberlon gerufen hatten. Nun, da es zu spät war und zwei seiner Beamten auf den Zeigern der gigantischen Uhr thronten wie die Trophäen eines grausigen Schmetterlingsfängers.

War er der Einzige? Der Einzige, der auf der Stelle begriff, was dieses Bild bedeutete?

Zwei tote Körper auf den beiden stählernen Zeigern des monströsen mechanischen Apparats. Einer von ihnen nahezu senkrecht, der andere leicht nach links geneigt. Exakt um fünf Minuten vor zwölf war das gigantische Räderwerk knirschend zum Stillstand gekommen.

TEIL EINS

29. Oktober 1889

L’après-midi / Am Nachmittag

ZÜNDUNG IN 59 STUNDEN, 51 MINUTEN

Deux Églises, Picardie – 29. Oktober 1889, 12:09 Uhr

»Und doch stellt selbst dies noch nicht den Höhepunkt der abendlichen Zerstreuungen dar.«

Gebannt hing Mélanie an den Lippen ihrer Cousine. Was Agnès indessen zum Anlass nahm, den Figaro sinken zu lassen und eine bedeutungsvolle Pause einzulegen. Nachdenklich sah sie zunächst Mélanie, dann deren Mutter an, die allerdings keine Miene verzog. Was Agnès achselzuckend fortfahren ließ.

»Die demoiselles im Publikum erscheinen einig, dass es sich bei diesem Höhepunkt um die Darbietung der wilden Kanaken handelt, welche im zuckenden Schein der Öllampen einen urtümlichen Tanz aus ihrer fernen Heimat ...«

»Kanaken?« Mélanie hatte den Rest ihrer Brioche zum Mund führen wollen, dann aber mitten in der Bewegung innegehalten. Sie glaubte, das Bild vor Augen zu sehen: nackte Wilde, Kannibalen womöglich, die zum hypnotischen Klang der Buschtrommeln mit ihren Speeren hantierten. Gefährlich. Einschüchternd. Und unberechenbar – wie sämtliche Völker jenseits der Grenzen der Französischen Republik, jenseits der Grenzen Europas. Sie musste sich räuspern, bevor sie wieder ein Wort herausbekam. »Echte Kanaken?«

Agnès hatte das Zeitungsblatt abgelegt und musterte sie mit zweifelndem Blick. »Ich habe noch nie von unechten Kanaken gehört. Wie sollte man das auch machen? Höchstens, dass man sie schwarz anmalen könnte ...« Sie warf einen Blick nach rechts. »Sind Kanaken schwarz, tata Albertine?«

Mélanie hatte ebenfalls den Kopf gedreht. Vicomtesse Albertine de Rocquefort saß am Kopfende der Frühstückstafel und war dem Gespräch der beiden Mädchen schweigend gefolgt. War sie beim Wort tata, Tantchen, kurz zusammengezuckt? Vermutlich nicht. Kein Mensch wusste seine Contenance zu wahren wie Mélanies Mutter. Doch Mélanie hätte die Reaktion gut verstehen können. Albertine de Rocquefort hatte einmal als eine der schönsten Damen von Paris gegolten, und selbst heute noch vermochte sie ihre Taille auf einen Umfang zu schnüren, um den sie Frauen beneidet hätten, die nicht die Hälfte ihrer Jahre zählten. Ein Tantchen war sie mit Sicherheit nicht.

Die Vicomtesse warf ihrer Nichte einen prüfenden Blick zu. »Kanaken haben eine dunkle Hautfarbe, soviel ich weiß. Aber sie sind nicht regelrecht schwarz. Ein Bronzeton, denke ich.«

»Ungefähr wie die Kommode?« Agnès wies auf das schwere Möbelstück aus glänzend poliertem Mahagoni. »Wenn sie von ihren Tänzen erhitzt sind und sich das Fackellicht auf der nackten Haut ihrer Körper ...«

»Möglich.« In einem sehr endgültigen Tonfall schnitt Albertine de Rocquefort dem Mädchen das Wort ab. »Wobei du gerade etwas von Öllampen vorgelesen hast. Ich gehe davon aus, dass sie mit offenem Feuer vorsichtig sein werden an der Esplanade des Invalides. Mitten in der Stadt. Selbst wenn die wilden Völker in ihrer eigenen Heimat ...«

»Im Senegal! Auf der Ausstellung gibt es auch ein Negerdorf aus dem Senegal! Und Tempeltänzerinnen aus Annam. Das ist in Hinterindien! Mit einem eigenen Tempel! Und sie machen Musik auf Instrumenten, die noch kein Mensch in Europa zu Gesicht bekommen hat! Auf den Champs de Mars wird der größte Edelstein der Welt gezeigt, und der stählerne Turm ...«

Albertine de Rocqueforts Blick traf das junge Mädchen, und diesmal kam er ohne Worte aus. Agnès verstummte, und im Grunde war es wie immer. Auf eine Weise tat es Mélanie leid. Natürlich wurde ihre Cousine manchmal ungeduldig, wenn sich Mélanie nicht auf der Stelle anstecken ließ von ihrer Begeisterung und ihren verrückten Einfällen: ein Ausritt mitten in der Nacht. Ein Boulespiel gegen eine Mannschaft aus dem Dorf. Doch was spielte das schon für eine Rolle? Meistens liebte sie es einfach nur, Agnès zuzuhören, deren Augen zu leuchten begannen, wenn das Wort auf halbnackte Menschenfresser kam, während sich Mélanie selbst der Magen zusammenzog und sie Angst bekam, allein der Gedanke könnte einen ihrer Anfälle auslösen.

Die Vicomtesse schien jetzt beide Mädchen aufmerksam zu mustern. »Ich habe über etwas nachgedacht«, erklärte sie. »Als wir die Stadt verlassen haben, um den Sommer hier auf dem Lande zu verbringen, hatte die Ausstellung eben erst begonnen. Und wie ihr wisst ...« Ein winziges Zögern. »Schon damals haben sehr viele Menschen das Gelände besucht, sehr viele ... gewöhnliche Leute. Und der Doktor hatte Mélanie jede Art von Aufregung streng untersagt.« Unvermittelt drehte sie sich zur Seite. »Doch der Sommer hat dir gutgetan, Mélanie, nicht wahr?«

Hitze durchfuhr das Mädchen. Agnès genoss es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, und tatsächlich tat sie das ja oft genug. Doch Mélanie selbst? Mit einem Mal waren die Augen auf sie gerichtet. Was wollte Maman von ihr hören? Ja, sie fühlte sich besser als am Beginn des Sommers, als die Anfälle beinahe Tag für Tag gekommen waren und sie es kaum noch gewagt hatte, ihr Nachtlager zu verlassen, um sich auf dem Balkon mit Blick auf den Élysée-Palast in den Lehnstuhl zu betten. Zögernd nickte sie.

Die Vicomtesse schien ihre Reaktion geahnt zu haben. »Ich habe mir überlegt, dass es vielleicht noch nicht zu spät ist«, sagte sie, ohne die Mädchen aus den Augen zu lassen. »Ich erhalte Korrespondenz von Herrschaften, deren Urteil ich vertraue, und sie versichern mir, dass ein Besuch der Ausstellung nicht allein für Personen niederen Standes ein lohnendes Erlebnis darstellt. Und du bist kein Kind mehr, Mélanie. Du bist eine junge Dame und wirst mich in der kommenden Saison in die Salons begleiten können.« Eine kurze Pause. »Ihr alle beide. – Zum Abschluss der Ausstellung sind spezielle Darbietungen angekündigt, die sich als lehrreich erweisen könnten. Neue technische Konstruktionen, die im Betrieb zu erleben sein werden. Eiffels Turm und das gesamte Gelände sollen in besonderer Weise illuminiert werden. Ja, von einer letzten, großen Innovation ist die Rede, welche die Aussteller bis zu den Abschlussfeierlichkeiten zurückhalten würden, um sie erst übermorgen Abend den staunenden Augen der Welt zu präsentieren, kurz bevor das größte bisher gekannte Feuerwerk die Monate der Exposition beschließen wird.«

Agnès hatte den Mund bereits geöffnet, doch jetzt genügte Albertine de Rocquefort die bloße Andeutung eines Seitenblicks, und sie schloss ihn wieder, ohne gesprochen zu haben.

»Nachdem deine Gesundheit nun tatsächlich so erfreuliche Fortschritte gemacht hat, wüsste ich nicht, was einer Rückkehr in die Stadt noch entgegensteht«, wandte sich die Vicomtesse an ihre Tochter. »Hättest du Freude daran, die Exposition Universelle zu besuchen?«

Die Weltausstellung! Mélanie war erstarrt. Jeden Tag brachte der Zeitungsbote den Figaro nach Deux Églises, und jeden Tag war wenigstens eine Seite der Ausgabe mit Neuigkeiten von der Exposition gefüllt. Im Wechsel lasen die beiden Mädchen jene Berichte vor, doch Mélanie war es am liebsten, wenn ihre Cousine an der Reihe war. Dann konnte sie sich ganz den Bildern hingeben, die in ihrem Kopf erwachten: wilde und gefährliche Bilder einer fremden, unbekannten Welt, die vom vertrauten Terrain am Quai d’Orsay Besitz ergriffen hatte. Eine Welt voller grausamer kleiner Pygmäen mit bunt bemalten Gesichtern, die aus dem Rhododendron giftige Pfeile verschossen. Voller schnaufender, pochender Maschinen, die stinkenden, schwarzen Qualm ausstießen. Und voller wagemutiger Menschen, die sich mit dem elektrischen ascenseur bis an die Spitze von Eiffels stählernem Turm befördern ließen, um Vögeln gleich die große Stadt von oben zu betrachten.

Schwindelerregende Bilder, im wahrsten Sinne des Wortes. Bilder, die ihr den Atem nahmen und doch den einen entscheidenden Vorteil hatten: Sie existierten einzig und allein in ihrem Kopf. Wenige Tage noch, und das gesamte wilde Spektakel, so fern und so nah zugleich, würde seine Tore schließen, und erleichtert würde Mélanie feststellen, dass die Stadt, in die sie zurückkehrten, noch immer das vertraute Paris war.

Deswegen hatten sie die Stadt in diesem Jahr so früh verlassen: damit Mélanie nicht gezwungen sein würde, sich dieser Unruhe auszusetzen. Und nun: Hättest du Freude daran, die Exposition Universelle zu besuchen?

»Ich ...« Es war ein Gefühl wie ein Nebel in ihrem Kopf, dem Gefühl, mit dem ihre Anfälle sich ankündigten, gar nicht unähnlich, aber dann doch wieder ganz anders. Und auf irgendeine Weise sorgte es dafür, dass ihr Mund sich öffnete, die Worte wie von selbst über ihre Lippen kamen: »Ich glaube, die Musik würde ich wirklich gerne hören.«

Agnès stieß einen Laut des Entzückens aus. Die Vicomtesse nahm ihn nicht zur Kenntnis. Ihr Blick blieb prüfend auf Mélanie gerichtet.

»Und du fühlst dich kräftig genug für einen Besuch der Ausstellung?«

Mélanie erwiderte den Blick ihrer Mutter, vorsichtig zunächst, aber dann ... Sie konnte nicht sagen, woher die plötzliche Entschlossenheit kam. Stumm nickte sie.

»Das wird un-glaub-lich!«, jubelte Agnès. »Wir müssen uns überlegen, was wir anziehen, ta... Tante Albertine! Mein Reitkleid ...«

Noch immer schenkte die Vicomtesse ihr keine Beachtung. Ihr Blick blieb auf ihre Tochter geheftet, und jetzt spürte Mélanie etwas: War es möglich, dass es ein kleiner Triumph war? In diesem Moment ging es nicht um Agnès, der so oft die gesamte Aufmerksamkeit galt. Es ging um sie, um Mélanie allein.

»Ja«, sagte sie und sah ihrer Mutter in die Augen. »Ich bin mir sicher: Es geht mir sehr viel besser. Ich möchte die Ausstellung sehen.«

Ein feines Lächeln erschien auf den Lippen Albertine de Rocqueforts. Nur selten konnte Mélanie erkennen, was im Kopf ihrer Mutter tatsächlich vorging, doch jetzt sah sie es deutlich, sah die Genugtuung.

»D’accord«, murmelte die Vicomtesse, faltete ihre Serviette und legte sie neben dem Teller ab. Ein Zeichen an das Hausmädchen, dass die Tafel aufgehoben war. »Ich erwarte einen Gast heute Nachmittag, doch Marguerite wird dem Kutscher Bescheid geben und alles arrangieren. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Zwei Tage und drei Nächte, bis die Exposition ihre Tore schließt. Schon morgen kehren wir in die Stadt zurück.«

***

ZÜNDUNG IN 59 STUNDEN, 43 MINUTEN

Exposition Universelle, Esplanade des Invalides, Paris,
7. Arrondissement – 29.
Oktober 1889, 12:17 Uhr

»Extraordinaire, mon cher secretaire! Extraordinaire!«

Die Worte tönten hohl. Vom breiten Akzent, der so deutlich nach der märkischen Heide klang, war nichts mehr zu hören. Darüber hinaus klangen sie durchaus bedrohlich, was vermutlich auch Drakensteins Absicht gewesen war, als er Kopf und Hals im mächtigen Rohr der französischen Haubitze versenkt hatte.

Friedrich aber sah genauer hin. Während seine Aufmerksamkeit vorgeblich dem Oberhaupt seiner Delegation galt, registrierte er die Reaktion der Gastgeber in jedem Detail. Sekretär Longueville, der die Gäste aus dem Deutschen Reich offiziell begrüßt hatte, war ein Diplomat alten Schlages. Deutlich untersetzt, die Haare auf bizarre Weise quer über den erkahlenden Schädel gekämmt. Keine Regung auf seinem Gesicht, der Ausdruck höflichen Interesses blieb an Ort und Stelle. Einige der jüngeren Beamten aus dem französischen Kriegsministerium hatten sich weniger unter Kontrolle. Deutlich verzog sich der eine oder andere Mund zu einem überlegenen Lächeln. Und das zu dulden war eine Herausforderung.

Drakenstein war natürlich ein Idiot, zugleich aber war er der Anführer dessen, was einer offiziellen deutschen Delegation auf der Weltausstellung noch am nächsten kam. Zufällig wusste Friedrich, welche Mühe es gekostet hatte, den Kaiser zu bewegen, in letzter Minute doch noch eine solche Delegation auf den Weg zu schicken. Eine recht hochrangige Delegation obendrein. Drakenstein war der Milchbruder des verstorbenen Vaters Seiner Majestät. Seite an Seite hatten die beiden an den Brüsten der kaiserlichen Amme gelegen. Wie der Mann sich auch gebärden mochte: Die Franzosen schuldeten ihm Respekt als einem offiziellen Gesandten des Reiches.

Und davon konnte nicht die Rede sein. Feixende Mienen, während auf Friedrichs eigenem Gesicht nicht die leiseste Regung ablesbar war. Er beschloss, sich die Gesichter sorgfältig einzuprägen. Die internationale Lage war gespannt wie seit Jahren nicht. Alle diplomatische Höflichkeit konnte nur mühsam darüber hinwegtäuschen, dass man sich eher früher als später auf dem Schlachtfeld wiedersehen würde. Und dann würden die Geschütze geladen sein.

»Famos.« Drakensteins Kopf kam wieder ins Freie. Die Franzosen mussten das Ausstellungsstück sorgfältig gereinigt haben. Kein Staubkorn auf seinem feisten Gesicht mit dem mächtigen Walrossbart. »Fernwaffe«, wandte er sich auf Deutsch an Friedrich. »Hohe Reichweite. Was denken Sie, hm? Geht noch besser. Werden irgendwann bis Paris reichen, wenn wir welche von der Sorte an der Grenze im Elsass aufstellen.«

Friedrich beschränkte sich auf ein Nicken. Die wenigsten Franzosen machten sich in ihrer Arroganz die Mühe, ein Wort Deutsch zu lernen; schließlich war ihre Sprache die Muttersprache der Diplomatie. Doch galt das auch für Longueville und seine Offiziellen? Er hatte Zweifel, dass Drakenstein darüber nachgedacht hatte.

Der Blick des Gesandten ging einen Moment lang suchend hin und her. Sie befanden sich vor dem Pavillon des französischen Kriegsministeriums, einem Palast im Stile des Sonnenkönigs, das Hauptportal flankiert von unterschiedlichen historischen Geschützen. Selbstverständlich überragte der Bau sämtliche anderen Gebäude auf dem Kolonialgelände der Weltausstellung: die Pavillons von Algerien, Tunesien, Indochina, jeweils im Stil der betreffenden Region gehalten. Unmittelbar gegenüber, vor dem Quartier der Kolonie Annam, waren die Tempeltänzerinnen eben dabei, Besuchern Tee zu reichen.

»Nicht dumm. Gar nicht dumm«, murmelte Drakenstein, bevor er sich an Longueville wandte in etwas, das aus seinem Mund dem Französischen noch am nächsten kam: »Die Wilden immer unter Kontrolle, hm? Wenn sie aufmüpfig werden, wirkt sie Wunder, die große Kanone, hm?«

Longueville neigte stumm den Kopf. Doch Drakensteins Augen waren schon weiter, blieben an Friedrich hängen.

»Ah.« Die Hand des Gesandten legte sich auf die Schulter des jungen Mannes. »Hab ich Ihnen noch gar nicht vorgestellt, mon cher secretaire. – Hauptmann Friedrich-Wilhelm von Straten.« Vertraulich: »Ziehsohn von Graf Gottleben. Nummer zwei im deutschen Generalstab. Graf Gottleben natürlich, nicht der Junge.«

Longueville nickte grüßend, während Friedrich militärisch salutierte, den Blick geradeaus, was ihm die Gelegenheit gab, den Franzosen ganz offen im Auge zu behalten.

Funktionierte es? Drakenstein war nicht eingeweiht. Es hätte ein Risiko bedeutet, ihn einzuweihen, und wie sich gerade gezeigt hatte, war dieses Risiko unnötig gewesen. Die erste sich bietende Gelegenheit, mit der Nähe seines Adjutanten zu einem der Mächtigen des Reiches herauszuplatzen, und schon hatte der Mann sie genutzt. Und ja: Longueville, wie erhofft, schien anzubeißen, wandte nach zwei Sekunden den Blick wieder ab und lud die Gäste aus dem Deutschen Reich mit einer Armbewegung ein, ihm in die Tiefen des Geländes zu folgen.

Friedrich verkniff sich ein zufriedenes Nicken. Diplomaten neigten dazu, Menschen in Schubladen einzusortieren. Friedrich von Straten, ein Adelssöhnchen, das seine Chance auf erste diplomatische Meriten seinen familiären Verbindungen verdankte. Unterschätzt zu werden konnte mehr als einen strategischen Vorteil bedeuten. Es konnte sich als Waffe erweisen.

Denn es hatte eine besondere Bewandtnis mit seiner Anwesenheit in Paris. Eine besondere Bewandtnis mit der frisch aus der Taufe gehobenen Sektion innerhalb der dritten Abteilung des Generalstabs, in der er Dienst tat. Eine Sektion, in der es den jungen Offizieren bewusst war, dass sie mit jeder Minute ihr Leben aufs Spiel setzten, selbst in Zeiten, da ringsum trügerischer Frieden herrschte. Wohl wissend, dass ihr Tun den Augen des Deutschen Volkes verborgen bleiben würde. Den Augen der Franzosen ohnehin. Ihre Einsätze bedeuteten einen ständigen Kampf, doch dieser Kampf war unsichtbar, wurde nicht mit dem stählernen Helm auf dem Haupte ausgefochten. Denn auch ihr Gegner kämpfte nicht mit der Waffe in der Hand, sondern verborgen und tückisch: Franzosen, Russen, Briten – Agenten der feindlichen Mächte, fieberhaft auf der Suche nach Schwachstellen, die sie erbarmungslos nutzen würden an jenem Tag, da sie sich zusammenrotten würden, um aus allen Himmelsrichtungen über das Deutsche Reich herzufallen.

Noch war dieser Tag nicht gekommen. Wenn er aber kam, dann würde Deutschland bereit sein, und Friedrich von Straten würde das Seine dazu beitragen. Diese Reise war seine Gelegenheit, den Beweis anzutreten und sich für neue, noch höhere Aufgaben zu empfehlen. Unter anderem diente sie diesem Zweck, dachte er. Doch vom letzten Punkt auf Friedrichs Agenda wusste der deutsche Generalstab so wenig wie die Franzosen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Erscheinungsjahr
2024
ISBN (eBook)
9783989522053
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Oktober)
Schlagworte
Historischer Roman Historischer Kriminalroman Spionage Roman Spionage Thriller Jahrhundertwende Roman Ken Follett Jeffrey Archer John le Carré Neuerscheinung eBook