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Miller's Kill: Der schwarze Tag der Sünde

Fergusson & Van Alstyne ermitteln – Band 6 | Wenn Fremdenhass zu blutigem Wahnsinn wird

©2025 541 Seiten

Zusammenfassung

»Sein Hass mag verborgen sein, doch am Ende wird seine Bosheit für alle sichtbar werden.« Pr 26:26

Ein südamerikanischer Gastarbeiter wird in Miller's Kill tot aufgefunden, ermordet mit einem einzelnen Schuss durch den Schädel. Als schon bald weitere Migranten aus der Latino Gemeinschaft auf die gleiche Art sterben, ist Priesterin Clare Fergusson überzeugt davon, dass sich ein Serienkiller in ihrer Gemeinde verbirgt, der seine Opfer aus Hass regelrecht hinrichtet. Clare weiß, dass ihr nicht viel Zeit bleibt, bis es weitere Tote geben wird – doch um den Mörder zu finden, braucht sie die Hilfe von Polizeichief Russ van Alstyne: der Mann, dessen Frau sie auf dem Gewissen hat …

»Eine Tour de Force in einer Reihe, die Mal zu Mal an Qualität gewinnt.« Booklist

Der sechste Fall für Fergusson und van Alstyne in der packenden Serie »Miller's Kill« – für alle Fans von Elizabeth George und Deborah Crombie.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Motto

Der Herr ist mein Hirte,

mir wird nichts mangeln.

Er weidet mich auf einer grünen Aue

und führet mich zum frischen Wasser.

Er erquicket meine Seele.

Er führet mich auf rechter Straße

um seines Namens willen.

Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,

fürchte ich kein Unglück;

denn du bist bei mir,

dein Stecken und Stab trösten mich.

Du bereitest vor mir einen Tisch

im Angesicht meiner Feinde.

Du salbest mein Haupt mit Öl

und schenkest mir voll ein.

Gutes und Barmherzigkeit

werden mir folgen mein Leben lang,

und ich werde bleiben

im Hause des Herr immerdar.

Psalm 23

Jahreskreis

Juli

Als sie durch die geborstene Scheibe den Revolverlauf schimmern sah, dachte Hadley Knox: Ich sterbe für sechzehn Dollar Stundenlohn. Sechzehn Dollar Stundenlohn plus Kranken- und Zahnzusatzversicherung. Sie tauchte hinter dem Streifenwagen ab, als das Ding losging, ein gewaltiges Donnern, das über die grüngoldenen Heuwiesen rollte. Die Kugel schlug mit einem satten Geräusch in den Ahorn, unter dem sie geparkt hatte, und ließ feuchte, rohe Splitter auf sie herabregnen.

Sie konnte den Gestank ihrer eigenen Angst riechen, eine Mischung aus dem Schweiß unter ihrer Uniform und dem bitteren Geruch von Kordit, der über den Hof des Farmhauses wehte.

Der Mann, der auf sie feuerte, wandte sich von dem von der Veranda beschatteten Fenster ab und brüllte einer kreischenden Person im Zimmer etwas zu. Hadley zerrte die Tür des Streifenwagens auf, knallte die Kante gegen den Baum. Sie schnappte sich das Mikro. »Zentrale! Harlene? Der Scheißkerl feuert auf mich.« Ein Teil von ihr wusste, dass dies nicht die korrekte Formulierung war, um einen Polizisten unter Beschuss zu melden, aber das war ihr egal. Falls sie das hier lebend überstand, würde sie Marke und Waffe abgeben und bei der Milchgenossenschaft anfangen.

Das Funkgerät knisterte. »Hadley? Ist deine Achtzig immer noch Christies Haus?«

Sie konnte die Zentrale über das Geschrei und die Flüche aus dem Farmhaus hinweg kaum verstehen. Sie glaubte, zwei Männerstimmen auszumachen. »Ja«, rief sie und wurde mit einer Rückkopplung belohnt. Sie versuchte es noch einmal, wobei sie sich zwang, in normaler Tonlage zu sprechen. »Er hat eine .357 Magnum.« Sie hatte die Waffe erkannt. Verdammt heiß. »Möglicherweise sind es mehrere. Männer, meine ich. Nicht Waffen. Obwohl es auch noch mehr Waffen sein könnten.« Sie hörte sich selbst, am Rand der Hysterie. »Um Himmels willen, schick Hilfe.«

Eine Pause entstand. Zur Hölle damit, dachte sie. Zur Hölle damit. Ich habe zwei Kinder, die mich brauchen. Als hätte die Beschwörung von Hudson und Genny ihre Wahrnehmung geschärft, erkannte sie plötzlich, dass das schrillste Kreischen nicht von einer Frau stammte. Oh, mein Gott. Ach du Scheiße. Sie schaltete das Mikro wieder ein. »Zentrale, da sind nicht nur die Schwester und die Frau von der Fürsorge. Die Kinder sind auch noch drin.« Diesmal antwortete Harlene umgehend. »Wagen sind unterwegs, und das staatliche Scharfschützenteam macht sich bereit. Sieh zu, dass du ihn in ein Gespräch verwickelst, bis Verstärkung eintrifft.«

Hadley starrte aufs Mikrofon. »In ein Gespräch verwickeln? Worüber denn? Herr im Himmel, ich bin kein Unterhändler. Ich hab noch nicht mal die Grundausbildung zur Polizistin beendet!«

»Du hast doch im Gefängnis mit wütenden Typen geredet, oder? Lass dir was einfallen. Zentrale Ende.«

Mit wütenden Häftlingen reden? Teufel, ja. Nur lag der Unterschied darin, dass sie hinter Gittern saßen, unbewaffnet, machtlos, während sie frei umherlief, bewaffnet mit Knüppel und Elektroschocker. Häftlinge schossen nicht auf dich, geschützt von einem Haus voller Geiseln. Die Kinder kreischten, eine Frau schluchzte, der Mann fluchte. Lass dir was einfallen. Lass dir was einfallen. Hadley rutschte aus dem Streifenwagen und kauerte sich hinter die offene Tür. Sie reckte sich, bis sie durch die Scheibe blicken konnte. »He!«, brüllte sie. »He! Sie!«

Der Lauf der Magnum schwang aus dem Farmhausfenster, ließ weitere Scherben zu Boden klirren. Gottverdammt, das Ding wirkte so riesig wie eine Kanone. Sie atmete ein. Die Julisonne brannte auf die ungepflasterte Zufahrt, von der Hitzeschwaden aufstiegen. Es war, als atmete man in einem Ofen. »Wie wär’s, wenn ich Ihnen die Kinder abnehme?«

»Wie wär’s, wenn du hier raufkommst und ...« Er erging sich in einer drastischen Beschreibung dessen, was sie für ihn tun sollte und er mit ihr machen würde. Sie hoffte bei Gott, dass die Kinder nichts davon verstanden.

»Schicken Sie die Kinder raus, dann können wir darüber reden«, schrie sie. »Wollen Sie Geld? Einen Fluchtwagen?« »Ich will, was mir gehört«, brüllte die schemenhafte Gestalt mit der Waffe. »Das hat nichts mit dir zu tun, Nutte. Lass mich in Ruhe, dann passiert keinem was.« Etwas im Inneren des Hauses erregte seine Aufmerksamkeit. Er wirbelte herum. Brüllte etwas, das sie nicht verstand. Dann ging erneut die Waffe los.

Ohne nachzudenken, sprang Hadley auf und rannte zum Haus, die Glock unbeholfen in der Hand. Wenn sie überhaupt einen Plan hatte, dann den, an der Veranda vorbei zur Hausecke zu gelangen, wo er sie nicht sehen konnte, ohne ein Fenster zu öffnen und sich hinauszulehnen. Er drehte sich wieder zu ihr um. Jetzt konnte sie den Umriss seines Gesichts erkennen, seine Augen, die im Dämmerlicht des Vorderzimmers glitzerten. Er hob die Magnum. Sie hörte den Atem in ihrer Brust rasseln, das Heulen der Frauen und Kinder, das Wispern von Reifen auf Erde und Kies, und sie wusste, dass sie es nicht rechtzeitig in den Schutz des Hauses schaffen würde.

O Gott o Gott o Gott o Gott – sie hörte den Schuss, höher und genauer als die beiden letzten Schüsse, und warf sich in Richtung des groben Steinfundaments, rollte sich in seine kühle Feuchte. Der Aufprall lähmte, betäubte sie, und sie stützte sich mit einer Hand ab, während sie versuchte, ihre Waffe mit der anderen in Schussposition zu bringen, und die ganze Zeit fragte sie sich: Wo ist sie? Wo hat er mich getroffen?

Dann klärte sich ihr Verstand, und sie sah zurück in den Hof. Ein großer roter Pick-up stand auf der Zufahrt – quer, nicht mit der Schnauze nach vorn wie ihr Streifenwagen. Russ Van Alstyne, der Polizeichef von Millers Kill, hatte die Arme auf die Motorhaube gestützt, die Glock fest in beiden Händen, die Mündung zur Veranda gerichtet. Ihr wurde klar, dass sie seine Waffe gehört hatte. »Alles in Ordnung, Knox?« Van Alstyne ließ das Fenster nicht aus den Augen.

»Ja.« Sie kämpfte sich in eine sitzende Position. »Ich meine, ja, Sir.«

»Bleiben Sie dort. Nicht bewegen.« Sie schaute nach oben. Ungefähr anderthalb Meter über ihr spiegelte ein Fenster den Ahorn, der gegenüberstand. Hadley presste sich an die Hausecke, zog die Beine an, tat ihr Bestes, sich unsichtbar zu machen.

»Wenn du noch mal schießt, knall ich eine von denen hier ab, ich schwör’s«, brüllte der Mann. »Ich baller einer von den Nutten den Kopf weg!«

Chief Van Alstyne hob die Hand, um zu zeigen, dass sie leer war, und legte mit der anderen vorsichtig seine Waffe auf die Motorhaube. Hadley hörte Reifen knirschen. Ein weiterer Streifenwagen tauchte auf, hielt neben dem Chief. Die Tür auf der abgewandten Seite sprang auf. Sie sah flüchtig einen leuchtend roten Schimmer und dann eine struppige graue Bürste. Kevin Flynn und Deputy Chief MacAuley. MacAuley und der Chief führten ein kurzes, unhörbares Gespräch.

»Was ist los?«, schrie der Bewaffnete.

Der Chief konnte sich weithin verständlich machen, ohne zu schreien. »Mein Deputy sagt, dass das Sondereinsatzkommando unterwegs ist. Sie haben nicht das geringste Interesse, mit Ihnen zu reden. Ich schon.«

»Fick dich!«, brüllte der Mann. Bei dem Klang seiner Stimme, so nah, bekam Hadley eine Gänsehaut.

»Kommen Sie, Mann, reden Sie mit mir.« Der Chief klang, als würde er dem Schützen am liebsten ein Bier spendieren. »Was wollen Sie tun, eine von ihnen erschießen? Einen von uns? Die schicken Sie nach Clinton, lebenslänglich, ohne jede Chance auf Bewährung. Wozu? Ist eine dieser Nutten den Rest Ihres Lebens wert?«

Hadley spürte, wie der Schock, den Chief so reden zu hören, in ihrem Rücken prickelte. War das derselbe Typ, der sich entschuldigte, wenn er gedankenlos in ihrer Gegenwart fluchte?

»Kommen Sie«, fuhr der Chief fort. »Sie legen Ihre Waffe hin, ich lege meine weg, und wir behandeln das hier als öffentliche Ruhestörung im betrunkenen Zustand. Sie kriegen dreißig Tage Knast und können Kabelfernsehen und Klimaanlage genießen.«

»Ich will keinen Ärger«, brüllte der Mann. »Ich und meine Brüder wollen nur das, was uns gehört. Hörst du?« Seine Stimme änderte sich, als hätte er sich vom Fenster abgewandt und schrie die Menschen hinter sich an. »Ja, ich rede mit dir, Mädchen. Willst du mich hinhalten?« Auf der Zufahrt hatten sich Flynn und MacAuley rechts und links vom Chief postiert. Van Alstyne deutete auf Hadley, dann zur Rückseite des Hauses, dann auf seine Augen. Sehen Sie nach, was hinten ist. Sie nickte, ließ sich zu Boden sinken und kroch auf Händen und Knien zur Rückseite des Hauses. Es erinnerte sie an das lustige salamanderartige Kriechen von Hudson als Baby, der im Gegensatz zu ihr allerdings keinen klobigen Gürtel und eine immer schwerer werdende Waffe mitgeschleppt hatte.

Der Chief redete weiter über das Wetter und die Hitze und – um Himmels willen! – bot dem Typen tatsächlich was Kaltes zu trinken an. Hadley kroch aus dem Schatten des Ahorns, die Sonne versengte ihren Rücken wie ein heißes Bügeleisen und presste die Falten aus ihrem Hemd. An der Ecke des Gebäudes hielt sie inne, brachte ihre Waffe in eine dilettantische Schussposition und spähte um die Hauswand.

Abblätternde weiße Schindeln. Eine ächzende Klimaanlage, aus der Wasser tropfte. Fünf Stufen, die auf eine schmale überdachte Veranda führten. Ein verrostetes Rad, das die neben der Hintertür angebrachte Wäscheleine stützte ... die Hintertür, halb geöffnet zum Raum dahinter.

»Hallo, Mama«, flüsterte sie. Wenn der Chief den Typ im Vorderzimmer weiter ablenkte, konnte sie hineinschleichen und versuchen, die Kinder herauszuholen. Es gab nicht viel Deckung – der Boden fiel vom Haus weg ab, die Wäscheleine verlief rund fünfzig Meter über offenen Rasen, bis sie an einer einsamen Birke endete. Aber falls es ihr gelang, die Kinder die Veranda hinunter und um die Ecke zu schaffen, konnten sie im Schutz des Fundaments außerhalb der Schusslinie bleiben.

Sie kroch vorwärts, einen halben Meter, einen, dann richtete sie sich auf, um die Tür besser sehen zu können.

Hadley starrte in die Augen einer toten Frau. Sie lag halb im Inneren, halb draußen, ihr Mund noch geöffnet von ihren letzten Worten. Blut tränkte ihr T-Shirt und sammelte sich unter einem Plastikwäschekorb voller Handtücher zu einer Lache.

Oh, mein Gott.

Hadley ließ sich wieder zu Boden fallen und kniff die Augen zusammen wie ein Kind, das sich vor dem Schwarzen Mann versteckt. Sie schluckte mit trockenem Mund, bekämpfte die aufsteigende Übelkeit. Ich werde nicht kotzen. Mit geschlossenen Augen registrierte sie die Dinge, die sie schon eher hätte bemerken müssen: den stechenden Kupfergeruch des Bluts, den Gestank menschlicher Exkremente, das Summen der Schmeißfliegen.

Sie hörte das Timbre von Van Alstynes Stimme in der hitzegeschwängerten Luft schweben. Ich muss dem Chief Bescheid geben. Natürlich würde sie sich bewegen müssen, was sie nicht wollte, nicht jetzt, vielleicht nie wieder. Sie wollte nichts mit einer weiteren Leiche zu tun haben. Die wievielte war das jetzt? Die vierte? Fünfte?

Eine weitere Erkenntnis traf sie. Das Versprechen des Chiefs von dreißig Tagen Knast – von Anfang an eine Lüge, der Typ hatte auf einen Polizisten geschossen, um Himmels willen – würde diesen Mann nicht überzeugen. Er würde sich nicht ergeben. Er war bereits auf dem Weg nach Clinton. Er hatte nichts zu verlieren.

Hadley drehte sich um, blieb dabei so dicht wie möglich am Boden, robbte an der Hauswand entlang zurück. Der Chief war auf den Mann mit der Waffe konzentriert, der brüllte, man hätte ihn abgezockt und er wäre nicht mehr fähig, irgendjemandem zu vertrauen. Hadley ignorierte ihn. Sie streckte die Hand in die Luft, um jemandes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der Chief ließ keine Sekunde das Fenster aus den Augen, hinter dem der Schütze kauerte, doch hinter dem Heck des Streifenwagens tauchte Kevin Flynns Kopf auf, und er nickte ein Mal. Bis zu ihrem Eintritt war er der unerfahrenste Officer des MKPD gewesen, und seine permanenten Versuche, freundlich und hilfsbreit zu sein, linderten nicht im mindesten das bittere Gefühl, zu jemandem aufschließen zu müssen, der acht Jahre jünger war als sie. Sie hoffte, dass er gut in Zeichensprache war – so nah am Haus konnte sie auf gar keinen Fall das Funkgerät benutzen -, als sie die Waffe neben sich ins Gras legte.

Als Erstes wies sie mit dem Daumen zur Rückseite des Farmhauses: da hinten. Sie nahm beide Hände, um die allgemein bekannte weibliche Figur zu formen, raus, rein, raus: eine Frau. Sie fuhr mit dem Finger über ihre Kehle: tot. Sie formte eine Hand zur Pistole und »schoss« sich in die Brust.

Flynn schüttelte den Kopf, als ob er seinen Verstand klären müsste, dann nickte er wieder. Sein roter Schopf verschwand, nur um kurze Zeit später hinter dem Chief aufzutauchen. Der Chief hörte sich an, was immer Flynn ihm zu sagen hatte. Seine Augen wurden schmal, die Haut über seinen Wangenknochen schien sich zu straffen. Er murmelte Flynn etwas zu, der in einen der Streifenwagen schlüpfte und nach dem Mikro griff.

»Was ist da los?«, fragte der Schütze. »Was will er mit dem Funkgerät?«

»Ich habe ihn gerade angewiesen, die Staatspolizei aufzuhalten.« Van Alstyne hob die Hand. »Ich will, dass wir beide genug Zeit haben, uns eine Lösung auszudenken. Mit einem Haufen Bullen, die mit der Waffe in der Hand hier herumstehen, geht das nicht.«

Wesentlich wahrscheinlicher war, dass Flynn das Sondereinsatzkommando anwies, die Scharfschützen weiträumig die halbe Meile lange Zufahrt der Christies umfahren zu lassen. Wenn sie die längere Strecke und einen schmalen Pfad durch die Schafweiden nahmen, konnten sie es ungesehen bis zur Scheune schaffen. Sobald sie drin waren, hatten sie vom Heuboden und den oberen Fenstern aus einen ausgezeichneten Blick.

Dieselbe Erkenntnis schien auch dem Bewaffneten zu dämmern. »Sag den Mistkerlen, sie sollen wegbleiben«, rief er. »Wenn sich einer mit uns anlegen will, muss er erst an den Kindern vorbei.« Im Haus weinte eine Frau.

Hadley bemerkte erst, dass der Mann seine Position am Fenster verlassen hatte, als der Chief rief: »Knox! Was macht er da drin?«

Sie rappelte sich auf und spähte durch das Fenster, unter dem sie gekauert hatte. Sie hatte einen wunderbaren Blick auf den Flur und die Treppe. Nutzlos. Sie nahm die drei Meter zum nächsten Fenster in zwei langen Schritten. Sie war gerade groß genug, um über das Sims in ein Zimmer zu blicken: Kinder überall, ein Teenager, der ein Kleinkind umklammerte, ein Frau, die den Mann angriff, als er einen kleinen Jungen hinter sich herzerrte.

»Er hat eines der Kinder«, brüllte Hadley. »Er – o Scheiße, nein!« Sie sah hilflos zu, wie der Mann der Frau den Kolben seiner Waffe ins Gesicht schlug. Die Frau stürzte zu Boden.

»Sind dort noch mehr Schützen?«, rief der Chief.

»Ich weiß nicht«, kreischte sie. »Vielleicht vorn ...«

Der Mann drehte sich mit dem sich windenden Kind auf dem Arm zum Fenster, den Revolver auf Hadley gerichtet. Sie tauchte ab und ging gerade noch rechtzeitig in Deckung. Das Fenster zersplitterte. Glasscherben schnitten in ihre Hände, durchbohrten den Rücken ihrer Uniform, blieben in ihren Haaren hängen.

Der Chief befahl ihr und Flynn brüllend, die Hintertür zu sichern. Sie hörte vom Rasen gedämpfte Laufschritte, dann war Flynn neben ihr. Er warf ihr eine kugelsichere Weste zu, identisch mit seiner eigenen. Sie fing sie, stand auf und lief zur Rückseite, begleitet vom Klirren der Glassplitter, die in alle Richtungen spritzten wie Wasser von einem struppigen Hund. Sie kämpfte sich in die Weste, als Flynn um die Ecke rannte und mit zwei Sätzen die Verandastufen hinaufstürmte. Er hielt die Tür auf und zielte in Brusthöhe, während sie ihre Waffe nach unten richtete, über die Leiche der Frau hinwegstieg – Es tut mir leid, Ma’am, so leid – und in die leere Küche rief: »Polizei! Lassen Sie Ihre Waffen fallen.« Sie ließ Flynn passieren und hätte beinah gefeuert, als ein Junge im Türrahmen auftauchte. »Porsche!«, heulte er. Aus unsichtbaren Zimmern dahinter hörte sie Van Alstyne Befehle geben, das Kreischen eines Mädchens und dann, Allmächtiger, Schusswechsel, einen, zwei Schüsse und dann das Knallen der Magnum.

»Rein hier!«, brüllte Hadley den Jungen an, als erst eine, dann eine andere Waffe feuerte und feuerte und feuerte, zu viele Schüsse, viel zu viele. Sie und Flynn schoben sich an ihm vorbei durch die Tür, hoch, niedrig, ihr Herz schlug so schnell, dass sie glaubte, sterben zu müssen.

Sie glaubte, sie müsste sterben.

Der Teenager zerrte kreischend eines der Kinder aus dem Weg. Sie umrundeten den großen Tisch, der den Raum beherrschte, und näherten sich dem Vorderzimmer. Durch die Tür konnte Hadley die andere Frau sehen. Sie lag auf dem Boden, aus bösartigen Schnittwunden auf ihrer Stirn floss Blut. Neben ihr lag der Schütze halb auf dem Sofa, halb auf dem Boden, seine blinden Augen starrten zur Decke, seine Brust war eine blutige Masse. Ein zweiter Mann war im anderen Türrahmen zusammengebrochen, vornübergebeugt wie eine fadenlose Marionette. Hadley glaubte, vor Erleichterung zusammenzubrechen. Stattdessen rannten sie und Flynn in den Raum. Sie erstarrte. Flynn stieß einen spitzen Laut aus wie eine Banshee. Die Vorbotin des Todes. Auf dem Holzboden lag ein weiterer Körper.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Erscheinungsjahr
2025
ISBN (eBook)
9783989526808
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2025 (März)
Schlagworte
Kriminalroman Thriller Spannungsroman Kleinstadt-Thriller Deborah Crombie Elizabeth George Broadchurch Mare of Easttown Neuerscheinung eBook
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