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The Runaway

Thriller: Du fliehst. Du kannst ihnen nicht entkommen.

©2025 697 Seiten

Zusammenfassung

Was tust du, wenn der Mensch, dem du am meisten vertraust, Schreckliches von dir verlangt?

Sie ist noch ein Kind, doch ihre Augen sind die einer Erwachsenen, die zu viel durchmachen musste … Die junge Cathy und ihr Freund Eamonn gehen durch dick und dünn. Das müssen sie auch, denn sie wachsen in einer harten Realität auf, in der Misshandlungen an der Tagesordnung sind. Als ihre Lage unerträglich wird, flüchten sie sich in ein Leben auf der Straße. Doch während Cathy Glück hat, eine Art neue Familie findet und sich in den Clubs von Soho schließlich ein erfolgreiches Leben erarbeitet, verschlägt es Eamonn nach New York, in die Klauen der dort ansässigen Gangs. Jahre später kehrt er zurück nach London – und droht, Cathy wieder mit sich in den Abgrund zu zerren …

»Kraftvoll und unglaublich spannend. Martina Coles Figuren sind unvergesslich.« Mirror

Als Kind geht sie durch die Hölle, als Erwachsene holt ihre Vergangenheit sie ein – psychologische Spannung der Bestsellerautorin für Fans von Catherine Shepherd.

»Das Buch war packend bis zur letzten Seite und es ist mir schwergefallen, es aus den Händen zu legen. Top Thriller-Drama!« dorothea auf Amazon.de

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Sie ist noch ein Kind, doch ihre Augen sind die einer Erwachsenen, die zu viel durchmachen musste … Die junge Cathy und ihr Freund Eamonn gehen durch dick und dünn. Das müssen sie auch, denn sie wachsen in einer harten Realität auf, in der Misshandlungen an der Tagesordnung sind. Als ihre Lage unerträglich wird, flüchten sie sich in ein Leben auf der Straße. Doch während Cathy Glück hat, eine Art neue Familie findet und sich in den Clubs von Soho schließlich ein erfolgreiches Leben erarbeitet, verschlägt es Eamonn nach New York, in die Klauen der dort ansässigen Gangs. Jahre später kehrt er zurück nach London – und droht, Cathy wieder mit sich in den Abgrund zu zerren …

Über die Autorin:

Martina Cole ist eine britische Spannungs-Bestsellerautorin, die bekannt für ihren knallharten, kompromisslosen und eindringlichen Schreibstil ist. Ihre Bücher wurden für Fernsehen und Theater adaptiert und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Martina Cole hält regelmäßig Kurse für kreatives Schreiben in britischen Gefängnissen ab. Sie ist Schirmherrin der Wohltätigkeitsorganisation »Gingerbread« für Alleinerziehende und von »Women's Aid«.

Die Website der Autorin: martinacole.co.uk/

Die Autorin bei Facebook: facebook.com/OfficialMartinaCole/

Bei dotbooks veröffentlichte Martina Cole »Die Gefangene«, »Die Tochter«, »Kidnapped«, »Perfect Family«, »The Runaway«, »Eine irische Familie«, »Die Ehre der Familie«, und »Die Abgründe einer Familie«.

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eBook-Neuausgabe Februar 2025

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1997 unter dem Originaltitel »The Runaway« bei Headline Book Publishing, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Die Aufsteigerin« bei Heyne.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1997 by Martina Cole

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2009 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von © Ya Ali Madad / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98952-505-4

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Martina Cole

The Runaway

Thriller: Du fliehst. Du kannst ihnen nicht entkommen.

Aus dem Englischen von Teja Schwaner

dotbooks.

WIDMUNG

Für D

Wie immer in Liebe

M

In liebender Erinnerung an Michael James Williams,

der nie vergessen sein wird

»Non omnis moriar.«

»Ganz sterbe ich nie.«

– Horaz, carmina 3, 30

Stets in euren Herzen, stets in eurem Sinn.

Deswegen kann er niemals fern von euch sein.

Für Zena und Maurice, in Kummer und Liebe

PROLOG

LONDON, 1995

»Meinen Sie, dass sie durchkommt?«

Tiefe Sorgenfalten zerfurchten das frühzeitig gealterte Gesicht des Polizisten. Auf seinem kahlen Schädel schimmerte ein leichter Schweißfilm.

Der junge Arzt zuckte die Achseln. »Ich bin mir nicht sicher, ob es in ihrem Sinne wäre. Allein ihr Gesicht haben wir mit über zweihundert Stichen nähen müssen. Ihre Nase war vollständig zertrümmert, und wir mussten an der Stelle operieren, wo man ihr den Schädel eingeschlagen hat. Sie müsste tot sein, denn eigentlich kann jemand, der so misshandelt wurde, gar nicht überleben. Und doch atmet sie, ihr Zustand ist stabil, ihre Vitalfunktionen sind gut, und die Knochen beginnen zu heilen. Solange sie jedoch nicht aus dem Koma erwacht – natürlich gesetzt den Fall, dass dies jemals geschieht –, können wir nicht feststellen, ob sie bleibende Hirnschäden davongetragen hat oder nicht. Wer auch immer ihr das angetan hat ... Nennen wir’s beim Namen: Sie wurde in Streifen geschnitten – eine Brust praktisch abgetrennt. Es kann nur ein Wahnsinniger gewesen sein, der ihr das angetan hat. Mir ist so was noch nicht zu Gesicht gekommen.«

Er sah hinunter auf die Patientin, auf die Nähte, die kreuz und quer über ihr übel zugerichtetes, angeschwollenes Gesicht verliefen, das sich wie eine furchterregende Maske vom weißen Kopfkissen des Krankenhausbettes abhob. Mit einer Frau hatte dieses Wesen keine Ähnlichkeit mehr, vielmehr schien es einem Horrorfilm entsprungen.

Das Surren der Apparate an ihrem Bett durchbrach die Stille, und der junge Arzt seufzte leise, beinahe unhörbar.

»Wissen Sie, wer das getan hat?«

Der Polizist nickte. »Sagen wir mal, ich kann mir recht gut denken, warum man sie zusammengeschlagen hat, und das ist doch ein Anfang, oder? Zu beweisen, dass der Dreckskerl ein Motiv hatte, wird ein hartes Stück Arbeit. Und ihn festzunageln, das wird noch schwieriger sein.«

Er riss sich vom Anblick der Frau los und sah dem Arzt in die Augen. »Sie war eine sehr schöne Frau, ja, das war sie, meine Cathy. Nicht auf den ersten Blick, aber sie hatte Klasse. Hatte so was an sich. Wissen Sie, was ich meine?« In der Stille der Intensivstation klang sein Cockney-Akzent besonders schroff.

Der Arzt lächelte schwach. »Sie kennen sie also?«

Jetzt lächelte der Polizist, traurig und wehmütig. Seine Miene entspannte sich, und für einen kurzen Moment sah der Arzt einen ehemals attraktiven Mann mit markanten Gesichtszügen vor sich.

»Ja, kann man wohl sagen. Jeder im Westend kannte Cathy, auf die eine oder andere Art. Unsere Wege kreuzten sich vor über zwanzig Jahren, kurz bevor sie nach Soho kam. Sie hat einen langen Weg hinter sich gebracht seit damals, einen sehr langen.«

Er hielt inne, als habe er vergessen, dass der Arzt noch immer da war. »Ja, einen verdammt langen Weg. Gott sei ihr gnädig.«

Zärtlich streichelte er ihren dünnen Arm. »Ihr gehört das Dukes – Sie wissen schon, die große Revuebar in Soho. Wo die Großen und die Guten sich zusammen mit den Nicht-so-Großen und Nicht-so-Guten tummeln. Aber bei alledem ist es doch ein anständiges Lokal. Die Touristen lieben es, besonders die deutschen. Männer in Frauenkleidern sind die große Attraktion. Es ist das La Cage von Soho, und die kleine Lady hier war die Seele des Geschäfts. Cathy hatte nur das Problem, dass sie die Vergangenheit nicht hinter sich lassen konnte. Die blieb ihr immer auf den Fersen, und das ist jetzt das Resultat.«

Der Arzt hörte den Mann schlucken, wusste, dass er gegen die Tränen ankämpfte. Also sah er weiterhin nur die Frau an.

»Schlecht war sie nicht, meine Cathy. Glauben Sie mir. Wirklich nicht. Sie wollte sich einfach nicht unterkriegen lassen. Sie wollte überleben und tat, was nötig war, um es zu schaffen. Es ging immer nur ums Überleben. Sonst hat sie sich nichts zuschulden kommen lassen.«

Der Arzt fasste die Schulter des Polizisten und sagte aufmunternd: »Also, hoffen wir, dass sie das hier überlebt, hm?« Aber in seiner Stimme schwang nicht viel Hoffnung mit. Insgeheim bezweifelte er sogar, dass die Frau je wieder die Augen öffnen oder gar jemanden erkennen würde. Um ihrer selbst willen hoffte er sogar, dass es nicht geschah, denn die Schläge hatten sie so zugerichtet, dass außer ihrer Haarfarbe nichts mehr da war, woran man hätte erkennen können, wie sie einmal ausgesehen hatte.

»Im Grunde hatte sie nie eine Chance«, sagte der Polizist leise. »In Soho sterben die Frauen normalerweise an Alkohol oder Drogen. Oft endet es aber auch wie hier, misshandelt und geschlagen in einem Krankenhauszimmer, allein.« Er hielt einen Augenblick inne, bemüht, seine Fassung zu gewinnen, bevor er den Arzt direkt ansah. »Ich habe sie auf meine Weise geliebt, und zwar seit dem ersten Tag, an dem ich sie sah, allein und verängstigt, noch ein Kind. Ich habe sie geliebt.«

Dann ging er aus dem Zimmer wie ein alter Mann, langsam und gramgebeugt.

Für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Patientin zu sich kam und sogar sprach, setzte sich eine junge Polizistin an deren Bett, um jedes Wort zu notieren. Bewaffnete Posten wachten rund um die Uhr draußen vor der Tür.

»War das Ihr Boss?« Der Arzt sprach leise, als sei der Tod gegenwärtig.

Die junge Rothaarige grinste verschmitzt, höchst erfreut, dass der attraktive junge Mediziner mit den dunklen Augen Notiz von ihr nahm.

»Mein Boss, genau. Das war Chief Inspecter Richard Gates, Leiter der Sittenpolizei.«

NEW YORK

Der Mann schaute aus seinem Bürofenster und reagierte einmal nicht elektrisiert auf den Anblick der Skyline. Normalerweise weckte diese Aussicht eine bis in den Unterleib spürbare Erregung, die euphorische Genugtuung, dass er, Eamonn Docherty, Straßenrowdy aus London, es zum angesehenen Geschäftsmann gebracht hatte, der in einem Büro von der Größe eines Tennisplatzes residierte und an einem Tisch saß, der aussah, als würde er ins Victoria und Albert Museum gehören und nicht ins zweiundachtzigste Stockwerk des Plaza Tower, einer seiner zahlreichen Immobilien.

Zum zehnten Mal an diesem Morgen nahm er das Telefon zur Hand und tippte die Nummer ein. Der Wählton schrillte laut in seinem Ohr, als würde er im Feinkostgeschäft um die Ecke anrufen und nicht in London. Er legte auf, als der Anrufbeantworter ansprang und eine Frauenstimme ihren aufgezeichneten Ansagetext begann.

»Scheiße, wo ist sie denn bloß?«

Die Worte waren an niemanden gerichtet, und seine Stimme hallte laut in der Stille des Büros. Er stand auf, ging hinüber zur gläsernen Wand und sah hinaus, ohne etwas wahrzunehmen. Dann schloss er die Augen und rief sich ins Gedächtnis, wie er als junger Mann den ersten Blick auf Amerika geworfen hatte.

Sein Vater, Eamonn Docherty Senior, war betrunken und schnarchte neben ihm auf dem Boot, als sie den Hudson erreichten und vor sich die Freiheitsstatue in ihrer ganzen Pracht aufragen sahen. Anders als ihre Vorfahren erwartete sie kein Ellis Island. Sie waren illegal auf einem englischen Containerschiff ins Land gebracht worden. Ein Freund eines Freundes hatte das arrangiert – wie sein Vater es am liebsten ausdrückte.

Eamonn Junior hatte einen Mord begangen, der ihn sein Leben lang belastete. Er hatte aus dem East End verschwinden müssen, und sein Vater hatte dafür gesorgt, dass sie zusammen fortgehen konnten.

Es war das einzige Mal in seinem Leben, dass sein Vater ihm aus der Patsche geholfen hatte.

Es dauerte kein Jahr, da verlor er seinen Vater und blieb auf sich allein gestellt. Mit gerade achtzehn Jahren musste er das Beste aus seinem Leben in der Neuen Welt machen. Und so ereignisreich, verdorben und gewalttätig es auch gewesen sein mochte, es hatte ihn hierher in den Plaza Tower gebracht.

Er hatte dafür gearbeitet, hatte jeden und alles benutzt, um es so weit zu bringen. Sogar Cathy, seine Cathy, wie er sie in Gedanken stets nannte. Auf ewig die Seine.

Das Telefon klingelte, und das plötzliche Geräusch schreckte ihn auf. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Sein Privatanschluss.

Jetzt, da das Telefon läutete, scheute er sich, den Hörer abzunehmen, fürchtete er sich vor dem, was er hören würde.

Denn insgeheim wusste er sehr genau, was er hören würde.

Die Stimme am anderen Ende war unverkennbar, eine leicht raue Frauenstimme, wie sie allein Transvestiten kultivieren können: weiblicher als die von Elizabeth Taylor, männlicher als seine eigene.

»Mein Gott, Eamonn, sie stirbt! Cathy stirbt! Bitte komm! Bitte. Ich weiß nicht, was ich machen soll ... Sie haben sie zerfleischt. Vor lauter Nähten kann man ihr Gesicht kaum mehr erkennen! O mein Gott, lieber Gott, hilf, dass ihr jemand ...«

Eamonn vergrub den Kopf in den sorgfältig manikürten Händen und weinte. Er hatte gedacht, auf die Nachricht vorbereitet gewesen zu sein, aber das war er nicht. Er war ganz und gar nicht darauf vorbereitet.

Er hatte etwas in Gang gebracht, und jetzt wusste er nicht, wie er es beenden sollte.

ERSTES BUCH

»Wir müssen dem Weg folgen, der zu unseren Ängsten fuhrt.«

– John Berryman (»A Point of Age«), 1914-1972

»Quem Jupiter vult perdere, dementat prius.«

»Wen Gott zerstören will, dem schickt er erst den Wahnsinn.«

– James Duport (Homeri Gnomologia), 1606-1679

»Eines ist ganz sicher –

die Reichen werden reicher

und die Armen kriegen Kinder.«

– Gus Kahn, 1886-1941

und Raymond B. Egan, 1890-1952

(»Ain’t we got fun«, 1921)

Kapitel eins

JANUAR 1960

»Ich will da nicht rein. Er geht doch gleich auf uns los.«

Cathy seufzte tief und strich dem Jungen eine Strähne aus der Stirn. »Und wo sollen wir sonst hin, Schlauberger?«

»Können wir nicht nach nebenan, Cath?« Eamonns Stimme klang weinerlich, und sie schüttelte langsam den Kopf.

Mrs. Sullivan wohnte direkt neben ihnen im zweiten Stock. Sie war eine grundgütige Seele und bot den Kindern stets Zuflucht, wenn zwischen deren Eltern Streit entbrannt war – was sehr häufig geschah. Eamonn Docherty Seniors erboste Stimme drang durch die Eingangstür, vor der sie standen, und immer wieder durchbrach Madge mit ihrem Kreischen seine wütende Tirade.

»Wir dürfen sie nicht verarschen. Wenn wir sie nämlich mal wirklich brauchen, schickt sie uns zum Teufel. Also, ich sag dir ...«

Die Tür wurde aufgerissen, und Madge Connor stand in ihrer ganzen imponierenden Stattlichkeit vor ihnen. Ihr 100- Kilo-Leib war in einen gesteppten rosa Hausmantel gehüllt, das Make-up in ihrem breiten Gesicht verschmiert. Nur die Zigarette zwischen ihren geschwollenen Lippen bewegte sich, tanzte auf und nieder. Aus zusammengekniffenen Augen starrte sie die Kinder an und fauchte schließlich mit einer Stimme, die Glas hätte schneiden können: »Kommt ihr tatsächlich noch mal nach Hause, ihr faules Pack! Rein mit dir, Eamonn, und bring deinen Alten zur Ruhe! Der ist mal wieder auf der Zinne!«

Cathy hörte, dass Eamonn Senior irgendwas von Irland brüllte, und nachdem Eamonn Junior hineingegangen war, schloss sie ganz fest die Augen.

Sie hatte sich immer gefragt, wie es wohl sein mochte, wenn man einen Vater hatte, aber nach zwei Jahren Zusammenleben mit Eamonn Senior war sie froh, nur mit ihrer Mutter fertigwerden zu müssen. Doch die beiden Erwachsenen bescherten Cathy und Eamonn einen nie endenden Alptraum. Entweder küssten oder prügelten sie sich. Eine entspannte, glückliche Zeit dazwischen gab es nicht. Beim Betreten der Wohnung schlug ihr der gewohnte Mief entgegen: Bratenfett und Katzenpisse, vermischt mit dem allgegenwärtigen Geruch aus offenen Bierflaschen. Mit diesem Geruch würde sie nie zurechtkommen. Er brannte ihr in der Nase und im Rachen, er schlug ihr jedes Mal auf den Magen und verdarb ihr die Laune. Der Gestank der Armut.

Als sie den winzigen Vorraum betrat, löste der Liebhaber ihrer Mutter seinen Gürtel. Sein massiger Körper, an dem kein Gramm überflüssiges Fett war, wirkte furchteinflößend. Alles an Eamonn war gewaltig, von den Füßen, Schuhgröße 46, bis zu den riesigen blauen Augen, und die animalische Kraft und Schläue, die er ausstrahlte, ließ Männer geringerer Größe schon verzagen, bevor er noch ein Wort an sie gerichtet hatte.

»Ich hack euch die verdammten Beine ab, ihr Dreckspatzen. Ich schreib mir eure Namen in mein Buch rein und streich sie gleich durch. Wie gefällt euch das?«

Cathy seufzte erleichtert. Die blauen Augen zwinkerten ihr jetzt zu, sein Wutanfall schien vorüber, und weil er genug getrunken hatte, war sein ungezügelter Zorn beschwichtigt und einer grenzenlosen Zufriedenheit mit sich und der Welt gewichen. Er hatte seinen Lieblingswitz gemacht, einen alten IRA-Spruch aus den Tagen der Freiheitskämpfer. Anscheinend schreiben sie Namen in ihr Notizbuch, und wenn man sie durchstrich, wurden die Betreffenden bei Tagesanbruch erschossen.

Cathy griente, als sie den großen Mann brüllen hörte. »Bei Tagesanbruch erschossen, beide. Wie gefällt euch das, äh?«

Er senkte sein riesiges Gesicht ihnen entgegen, und sein Herz schien bersten zu wollen vor lauter Liebe zu den beiden Kindern, besonders zu dem Sohn, der seinen Namen trug, seinem einzigen Kind.

»Chips hättet ihr gerne?« Er lächelte. Ein breites Grinsen, das eine Menge Zähne zeigte, sein Gesicht an all den richtigen Stellen mit Lachfalten überzog und jedem augenfällig machte, was die Frauen an ihm fanden. Denn Frauen liebten Eamonn Docherty – und zwar schon immer.

Zumindest eine bestimmte Sorte Frauen.

Madge Connor, in deren Gesicht die Verblüffung stand, schüttelte ungläubig den Kopf. »Man weiß doch nie, was der Arsch vorhat. Nie weiß man das nicht.« Sie sprach mit breitem Cockney-Akzent, eine Spur Stolz im rauen Ton. Dieser Raufbold, dieser Säufer und Hurenbock, dieser mächtig große Kerl, mit dem sie in wilder Ehe lebte, blieb ihr ein Rätsel. Und gerade das machte ihn so anziehend, wie sie sich in nüchternen Momenten eingestand.

»Ich muss mich langsam fertig machen und zur Arbeit. Cathy, tu mir einen Gefallen, Kleine. Bügel mir das rote Kleid.«

Cathy ging in die Kochnische, stöpselte das Bügeleisen ein und breitete das sauberste Handtuch, das sie finden konnte, auf dem Tisch aus. Sie handelte ganz automatisch. In diesem Haushalt widersetzte man sich keinem Befehl, auch nicht, wenn er sich anhörte wie eine Bitte. Wenn man die Nacht überstehen wollte, sprang man unverzüglich, wenn es hieß »Spring!«. So einfach war das.

Zwanzig Minuten später, nach einer Katzenwäsche und nachdem sie ihr Make-up vom Vortag mit einer dicken Schicht Schminke übertüncht hatte, war Madge in ihrem roten Kleid, das aus allen Nähten zu platzen drohte, fertig zum Arbeitsantritt. Sie kämmte sich das Haar noch ein letztes Mal nach hinten, sah ihre Tochter an und sagte sanft: »Wie seh ich aus, Liebes?«

Cathy lächelte das Zahnlückenlächeln einer weisen Siebenjährigen und sagte ehrlich heraus: »Du siehst hübsch aus, Mum. Richtig schön.«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Erscheinungsjahr
2025
ISBN (eBook)
9783989525054
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2025 (Februar)
Schlagworte
Spannung Thriller Mafia-Thriller England-Thriller Domestic Noir Thriller Kindesmissbrauch Thriller Catherine Shepherd Cara Hunter Louise Jensen eBook
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Titel: The Runaway