Zusammenfassung
London in den 50er Jahren: Dass die Bewohner der Lancaster Road sich nicht um das Gesetz scheren, ist allgemein bekannt. Auch Mauras Geschwister sehen keinen anderen Weg als die Kriminalität, um aus der verheerenden Armut auszubrechen, in der sie aufwachsen. Allen voran ihr älterer Bruder Michael, der zum König von Londons Unterwelt aufsteigt. Maura will mit all dem nichts zu tun haben – bis zu dem schicksalhaften Tag, der ihr Leben für immer verändert: Von ihrer großen Liebe, einem Polizisten, im dunkelsten Moment im Stich gelassen, schließt sie sich verbittert ihrem Bruder an und wird schon bald zu seiner skrupellosen rechten Hand. Doch wer den Coup des Jahrhunderts plant, muss sich vor dem Gesetz fürchten …
»Von Anfang an hat Martina Cole uneingeschränkte Anerkennung für ihre unverwechselbar und kraftvoll geschriebenen Bücher erhalten.« The Times
Das gefeierte Debüt der britischen Bestsellerautorin, eine düstere Mafia-Familiensaga, die sich über mehrere Jahrzehnte spannt und wie gemacht ist für alle Fans von Peaky Blinders und Jeffrey Archer!
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Über dieses Buch:
London in den 50er Jahren: Dass die Bewohner der Lancaster Road sich nicht um das Gesetz scheren, ist allgemein bekannt. Auch Mauras Geschwister sehen keinen anderen Weg als die Kriminalität, um aus der verheerenden Armut auszubrechen, in der sie aufwachsen. Allen voran ihr älterer Bruder Michael, der zum König von Londons Unterwelt aufsteigt. Maura will mit all dem nichts zu tun haben – bis zu dem schicksalhaften Tag, der ihr Leben für immer verändert: Von ihrer großen Liebe, einem Polizisten, im dunkelsten Moment im Stich gelassen, schließt sie sich verbittert ihrem Bruder an und wird schon bald zu seiner skrupellosen rechten Hand. Doch wer den Coup des Jahrhunderts plant, muss sich vor dem Gesetz fürchten …
Über die Autorin:
Martina Cole ist eine britische Spannungs-Bestsellerautorin, die bekannt für ihren knallharten, kompromisslosen und eindringlichen Schreibstil ist. Ihre Bücher wurden für Fernsehen und Theater adaptiert und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Martina Cole hält regelmäßig Kurse für kreatives Schreiben in britischen Gefängnissen ab. Sie ist Schirmherrin der Wohltätigkeitsorganisation »Gingerbread« für Alleinerziehende und von »Women's Aid«.
Die Website der Autorin: martinacole.co.uk/
Die Autorin bei Facebook: facebook.com/OfficialMartinaCole/
Bei dotbooks veröffentlichte Martina Cole »Die Gefangene«, »Die Tochter«, »Kidnapped«, »Perfect Family«, »The Runaway«, »Eine irische Familie«, »Die Ehre der Familie«, und »Die Abgründe einer Familie«.
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eBook-Neuausgabe April 2025
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1992 unter dem Originaltitel »Dangerous Lady« bei Headline Book Publishing PLC, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 1994 unter dem Titel »Gefährliche Lady« bei Heyne.
Copyright © der englischen Originalausgabe 1992 by Martina Cole
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1994 der deutschen Ausgabe by R. Piper GmbH & Co. KG, München Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)
ISBN 978-3-98952-656-3
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Martina Cole
Eine irische Familie
Thriller
Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle
dotbooks.
Widmung
Für meine Eltern
Buch eins
London, Notting Hill
Geld mußt du machen, Geld;
wenn es geht, mit Recht und Anstand,
wenn nicht, unter allen Umständen Geld.
Horaz, 65-8 v. Chr.
Soll ich meines Bruders Hüter sein?
Genesis 4, Vers 9
Kapitel 1
1950
»Sie kommen aber verdammt spät!«
Dr. Martin O’Reilly sah den Jungen an und seufzte.
»Ich mußte noch einen Krankenbesuch machen. Jetzt sag mir lieber, wo deine Mutter ist.«
»Im Bett, wo denn sonst.«
Der Junge setzte sich wieder auf die Treppe zu seinen sieben Brüdern, der jüngste drei, der älteste vierzehn. Der Doktor zündete sich eine Zigarre an. Er blieb ein paar Sekunden stehen und sog kräftig daran, um sicher zu sein, daß sie auch ordentlich brannte. Der Geruch einer geballten Ladung Ryans konnte selbst dem stärksten Mann den Magen umdrehen, obwohl ihm der Slumgestank nun wohl schon permanent in der Nase saß. Er durchsetzte die Kleider und drang durch die Poren bis tief unter die Haut. Vorsichtig begann O’Reilly den Treppenaufstieg, sorgsam darauf bedacht, auf keine der kleinen Hände zu treten. Die Kinder rutschten nach rechts und links weg, um ihm Platz zu machen. Genauso sorgsam vermied er jede Berührung mit der Wand. Den Gestank konnte er mit seiner Zigarre bekämpfen, doch die Kakerlaken – an die würde er sich nie gewöhnen. Wie die Viecher es schafften, senkrechte Wände raufzukrabbeln, war ihm einfach unbegreiflich. Das spottete doch allen Gesetzen der Schwerkraft!
Oben angekommen, stieß er die erste Tür auf und stand vor Sarah Ryan. Sie lag auf dem großen Doppelbett, ihr Bauch riesig und aufgetrieben. Er lächelte ihr zu, wobei ihm schier das Herz brechen wollte. Sarah Ryan war vierunddreißig Jahre alt. Ihr fahles blondes Haar war zu einem straffen Knoten geschlungen, die Haut bleich und trocken. Wären da nicht die leuchtenden, wachen Augen gewesen, hätte man sie für einen Leichnam halten können. Er konnte sich noch erinnern, wie er vor fünfzehn Jahren in dieses Haus gekommen war, um ihr erstes Kind zu entbinden. Was war sie doch für eine gutaussehende Frau gewesen! Nun war ihr Körper aufgeschwemmt und zernarbt von den ständigen Schwangerschaften, ihr Gesicht vorzeitig gealtert und voller Sorgenfalten.
»Ist wohl bald soweit?« fragte er freundlich.
Sarah versuchte sich aufzurichten. Die alte Zeitung, die unter ihr lag, raschelte bei der Bewegung. »Ja. Danke, daß Sie gekommen sind, Martin. Ich hab die kleinen Rotznasen losgeschickt, ihren Dad zu suchen, aber der hat sich natürlich mal wieder dünne gemacht.«
Sie umklammerte ihren Leib, als eine neue Wehe sie überkam. »Oh, dies hier kann’s kaum mehr erwarten, auf die Welt zu kommen.« Sie lächelte schwach. Dann weiteten sich ihre Augen, als sie sah, daß der Doktor eine Spritze aus seiner Tasche nahm.
»Das Ding werden Sie nicht in mich reinpieksen! Ich hab’s Ihnen schon beim letzten Mal gesagt. Ich will die verdammten Spritzen nicht. Das ist mein dreizehntes Kind, und bei keinem hab ich so was gebraucht. Nicht mal bei den Totgeburten. Ich will nichts davon wissen!«
»Nun kommen Sie, Sarah. Das macht es Ihnen leichter.«
Sie hob die Hand, um seinen Protest abzuwehren. »Tut mir leid, aber das Zeug tut höllisch weh. Dagegen ist Kinderkriegen der reinste ... reinste Klacks.«
Martin legte die Spritze auf den kleinen Nachtkasten, seufzte tief und zog die Decke über ihren Beinen weg. Seine geübten Hände tasteten die Seiten ihres Bauches ab. Dann ließ er zwei Finger in ihre Vagina gleiten. Als er fertig war, zog er die Decke wieder über sie.
»Ich fürchte, es ist eine Steißlage.«
Sarah zuckte die Schultern.
»Das wär das erste Mal. Bisher hab ich’s ja ganz gut hingekriegt. Ben sagte neulich, demnächst werden sie einfach aus mir rausplumpsen, wenn ich beim Kaufmann bin.«
Sie lachte, und der Doktor lachte mit ihr.
»Dann wär ich ja arbeitslos. Nun entspannen Sie sich, Sarah. Ich bin gleich wieder da. Ich möchte, daß einer der Jungen was für mich erledigt.« Er verließ das Zimmer und schloß leise die Tür hinter sich.
»Ist es endlich da?« Das kam von dem achtjährigen Leslie, der ihm vorhin die Tür aufgemacht hatte.
»Nein, es ist noch nicht soweit. Nur nicht so ungeduldig, du kleiner Hitzkopf.«
Der Doktor wandte sich an Michael, den Ältesten. Mit seinen knapp fünfzehn Jahren war er bereits über ein Meter achtzig groß und überragte den kleinen irischen Arzt bei weitem.
»Geh und hol die alte Mutter Jenkins, Michael. Ich werde diesmal Hilfe brauchen.«
Der Junge blickte starr auf den Doktor hinab. »Meine Mutter wird es doch schaffen, oder?« Seine Stimme klang tief und besorgt.
Der Doktor nickte. »Natürlich wird sie das.«
Noch immer rührte sich der Junge nicht.
»Bisher hat sie die alte Mutter Jenkins aber nie gebraucht.«
Der Doktor sah ungeduldig zu ihm auf. »Hör mal, Michael, ich kann hier nicht den ganzen Tag mit dir verplempern. Deiner Mum geht es schlecht, aber wenn wir es schaffen, dieses Baby auf die Welt zu bringen, kommt sie schon wieder auf die Beine. Je schneller du Mrs. Jenkins herbringst, desto besser. Die Zeit wird knapp.«
Michael wandte sich langsam ab. Mit einer Hand am Geländer, der anderen an der Wand, rutschte und sprang er über die Köpfe seiner Brüder die Treppe hinab. Als er unten schwer auf dem Linoleumboden aufkam, rief ihm der Arzt nach: »Sag ihr, daß ich die zehn Shilling zahle, sonst kommt sie nicht.«
Michael winkte, zum Zeichen, daß er den Doktor gehört hatte, riß die Haustür auf und stürmte hinaus.
Der Doktor sah auf die Köpfe der jüngeren Kinder hinab und biß noch härter auf seine Zigarre. Durch Michaels wilde Rutschpartie waren die Kakerlaken von der Wand gefallen. Benny, dem Jüngsten, krabbelten sie nicht nur über die Kleider, eine besonders mutige kroch ihm sogar langsam über das Gesicht. Martin sah, wie das Kind sie gleichgültig wegschnipste und nahm sich vor, den Hauswirt aufzufordern, das Haus ausräuchern zu lassen. Damit war man die verdammten Dinger zwar nicht für immer los, aber den Ryans wäre wenigstens eine Verschnaufpause gegönnt.
»So, und ein paar von euch laufen jetzt los und suchen euren Vater.« Geoffrey, Anthony und Leslie sprangen auf. Der Doktor zeigte nacheinander auf jeden der Jungs. »Du, Geoffrey, versuchst es im Latimer Arms. Du, Anthony, gehst rauf zum Roundhouse. Und du ...«
Leslie nickte, blickte aber starr zu Boden.
»... gehst zum Kensington Park Hotel. Wenn ihr ihn dort nicht findet, versucht es im Bramley Arms. Solltet ihr euren Dad aber doch irgendwo auftreiben, sagt ihm, er soll nach Hause kommen, weil er hier gebraucht wird. Könnt ihr das behalten?«
Drei Köpfe nickten einmütig und verschwanden durch die Haustür. Martin ging zu Sarah zurück.
»Das sind schon prima Jungs, die Sie da haben.«
Ihre Stimme klang skeptisch. »Ich weiß nicht so recht. Manchmal sind sie ein bißchen wild. Da ist der Alte dran schuld. Erst verprügelt er sie fürs Klauen, dann schickt er sie selbst dazu los. Sie können machen, was sie wollen, nie ist es recht.«
Sie krümmte sich unter der nächsten Wehe zusammen.
»Entspannen Sie sich, Sarah.« Er strich ihr ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Draußen wurde es dunkel, darum zog er die Vorhänge zu und knipste das Deckenlicht an. Er zündete sich am glühenden Stummel der ersten eine weitere Zigarre an. Dann untersuchte er sie erneut, die Zigarre fest zwischen die Zähne geklemmt. Als er sich wieder aufrichtete, lag ein besorgter Blick auf seinem Gesicht. Er entspannte sich sichtbar, als er eine Stimme im Flur hörte. Kurz darauf öffnete Mutter Jenkins die Tür. Wuchtig, mit ihren gut zweihundert Pfund Lebendgewicht, baute sie sich am Fußende von Sarahs Bett auf.
»Alles klar, Doktor?« Das war eine Begrüßung, keine Frage.
»Alles klar, Sarah? Diese verflixten Treppen. Bringen mich völlig aus der Puste. Aber diese Jungs!« Sie wedelte mit den Händen. »Wie die aufgescheuchten Hühner. Kaum haben sie mich gesehen, sind sie nach allen Seiten davongestoben!« Ihr tiefes, dröhnendes Lachen erfüllte den Raum. Wo ihr der Doktor doch die zehn Shilling zahlte, konnte sie sich wohl erlauben, freundlich zu sein.
»Sie sind ja auch ein beeindruckendes Frauenzimmer, Matilda, alles was recht ist. Nun gehen Sie wieder runter und machen Sie mir eine ordentliche Menge Wasser heiß. Ich muß meine Sachen sterilisieren. Der kleine Kerl hier ist eine Steißlage.«
Matilda nickte heftig mit dem Kopf.
»Jawoll, Doktor. Ich schick zu den Nachbarn rum, die solln ihre Kessel aufsetzen. Vielleicht fällt für uns sogar ein Täßchen Tee dabei ab.«
Als sie aus dem Raum stampfte, blitzte Sarah den Doktor wütend an.
»Was tut die hier? Ich hab keine zehn Shilling, und wenn, würde ich sie den Kindern geben. Die haben seit gestern nichts gegessen, und falls dieser Kerl, der mein Mann ist, nicht bald nach Hause kommt, gibt’s heute wieder nichts! So wie ich den kenne, ist der bei irgend ’nem billigen Flittchen und taucht nicht vor morgen auf!«
Sie war den Tränen nahe.
»Nun beruhigen Sie sich, Sarah. Ich bezahle sie.« Er griff nach ihrer Hand. »Still jetzt, meine Liebe. Das hier schaffe ich nicht alleine. Also pscht jetzt, und sparen Sie sich Ihre Kräfte!«
Sarah fiel mit schweißnassem Gesicht in die Kissen zurück. Ihre Lippen waren rissig und trocken. Mühsam lehnte sie sich zum Nachttisch hinüber, griff nach dem Wasserglas und trank dankbar ein paar Schlucke der lauwarmen Flüssigkeit. Kurze Zeit später brachte Matilda eine dampfende Wasserkumme herein. Der Doktor machte sich daran, seine Instrumente zu sterilisieren, darunter auch eine große Schere.
Um neun Uhr abends war Sarah in höchsten Nöten, und das Kind mit ihr. Zweimal hatte der Doktor versucht, seinen Arm in sie hineinzuzwängen und das Kind umzudrehen, und jedesmal war es ihm mißlungen. Er wischte sich die Hände an einem Tuch ab, das er mitgebracht hatte.
Das Baby mußte raus, und zwar bald, sonst würde er sie beide verlieren. Dieser verfluchte Benjamin Ryan! Es war immer dasselbe. Jedes Jahr machte er ihr ein Kind, aber nie war er da, wenn sie zur Welt kamen.
Die kleinen Jungen hielten weiter auf der Treppe Wacht. Alle waren müde und hungrig. Michael, der oben an der Treppe stand, verfluchte im stillen den Vater, während er in die kleinen Gesichter seiner Brüder sah. Benny nuckelte am Ärmel seiner Jacke.
Plötzlich wurde laut gegen die Haustür geklopft. Der sechsjährige Garry machte auf, wurde aber glatt von den zwei hereinstürmenden Polizisten zur Seite geschleudert. Michael warf ihnen nur einen Blick zu und stürzte leise fluchend ins Schlafzimmer seiner Mutter. Von der Treppe waren Schreie zu hören, als die beiden Polizisten sich nach oben kämpften, woran sie von den restlichen Jungs nach Kräften gehindert wurden, in der Hoffnung, dem Bruder so zur Flucht zu verhelfen.
Michael hatte das Schlafzimmerfenster geöffnet und hing halb draußen, halb drinnen, als die Polizisten ins Zimmer stürmten.
Dann ging das Licht aus.
»Wer von euch hat das Licht ausgemacht, ihr kleinen Rotzer?«
»Keiner hat das verdammte Licht ausgemacht. Der Strom ist weg.« Sarahs Stimme war sehr schwach. Die Polizisten knipsten ihre Taschenlampen an.
»Kommen Sie hier rüber mit dem Licht. Die Frau ist in Lebensgefahr.« Die Dringlichkeit in der Stimme des Arztes ließ die beiden Männer augenblicklich ans Bett treten. Der Junge war längst über alle Berge, das wußte sie. Sarah wand sich vor Schmerzen, ihre Wangen tränenüberströmt.
»Ihr seid doch nur auf Blut aus. Mein Junge hat nichts Unrechtes getan.«
Matilda Jenkins mischte sich ein. »Hat denn niemand einen Shilling für den Zähler?«
»Ich mach das schon.« Der jüngere der beiden Polizisten kramte in seiner Hosentasche nach Kleingeld. Er ließ seinen Kollegen bei dem Doktor zurück, ging hinaus und tastete sich die Treppe hinunter. So behutsam wie möglich wich er den Kindern aus, duckte sich in die Abseite unter die Treppe, fand den Zähler und warf einen Shilling ein. Dann noch einen. Schließlich trat er heraus und knipste die Taschenlampe aus. Sieben Augenpaare waren in offener Feindseligkeit auf ihn gerichtet, selbst die des Jüngsten, noch keine vier Jahre alt. Der Mann betrachtete die Jungs, als sähe er sie zum ersten Mal. Ihre Köpfe waren fast kahlgeschoren, um der Läuse Herr zu werden, und aus den löchrigen Pullovern schauten knochige Ellbogen heraus. Eine Weile stand er nur da und starrte sie an. Zum ersten Mal ging ihm auf, wie es wohl sein mußte, so zu leben, und ihn überkam ein Gefühl von Trauer und Sinnlosigkeit. Er nahm eine Zehnshillingnote aus dem Geldbeutel und hielt sie Geoffrey, dem Zweitältesten, hin.
»Lauf rüber zu Messers und hol für euch alle Fisch und Chips.«
»Wir wolln kein Bullengeld!«
»Nun hör sich das einer an! Ein ganz Hartgesottener! Paß auf, du Schlaukopf, deine kleinen Brüder sind am Verhungern, also tu, was ich dir sage!«
Er drückte Geoffrey das Geld in die Hand. Alles in dem Jungen sträubte sich, Geld von einem Polizisten, ihrem Erzfeind, anzunehmen, doch ein Blick in die Gesichter seiner kleinen Brüder ließ ihn weich werden. Sie hatten seit fast zwei Tagen nichts zu essen gekriegt. Mürrisch drängte er sich an dem Mann vorbei, der ihn am Arm packte.
»Sag deinem Bruder, daß wir ihn am Ende doch kriegen, also kann er sich genausogut gleich stellen.«
Wütend riß Geoffrey sich los. Er warf dem Mann einen Blick abgrundtiefer Verachtung zu, öffnete die Haustür und verschwand. Der Polizist ging kopfschüttelnd nach oben zurück.
Im Schlafzimmer kämpfte Sarah mit aller verbliebenen Kraft darum, das Kind zu gebären. Der andere Polizist hielt sie fest, während der Doktor einen Dammschnitt machte. Er hatte den Schnitt noch nicht beendet, als sie mit einem gewaltigen Pressen, das sie bis zum Hinterteil aufriß, das Kind herausdrückte. Es war immer noch in der Fruchtblase. Der Doktor schnitt sie auf und sah in das kleine, blau angelaufene Gesicht. Er säuberte die Nase des Babys und blies ihm sanft in den Mund, während er vorsichtig auf den winzigen Brustkorb drückte. Das Baby hustete und ließ einen ersten kleinen Schrei los. Dann, nach einem tiefen Atemzug, schrie es, was das Zeug hielt. Wie der Blitz hatte der Doktor die Nabelschnur durchschnitten, Matilda Jenkins das Kind übergeben und nähte nun in fliegender Eile Sarah wieder zusammen, als hinge sein eigenes Leben davon ab.
Sie lag erschöpft in den Kissen, ihr ganzer Körper gefühllos, wie taub. Sie schwor sich, daß dies ihr letztes Kind sein würde.
»Dein erstes Mädchen, Sarah«, meinte Matilda freundlich.
Sarah setzte sich auf, sprachlos, und ein Leuchten ging über ihr Gesicht. Sie lächelte breit, wobei all ihre großen, gelblichen Zähne zum Vorschein kamen.
»Du machst Witze! Ich dachte, es wär wieder ein Junge. Ein Mädchen! Ist das wirklich wahr?«
Selbst die Polizisten lächelten ihr zu. Sie war ehrlich verblüfft.
»Oh, gib sie mir. Laß sie mich halten! Endlich eine Tochter, Gott sei’s gedankt!«
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Neuausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2025
- ISBN (eBook)
- 9783989526563
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2025 (April)
- Schlagworte
- Spannung Familiensaga Mafia-Roman Mafia-Thriller Brit-Crime Ken Follet Jeffrey Archer Peaky Blinders Tana French eBook