Der vierte König
Die Plantagenet-Aquitanien-Saga 3 | Der Sohn, der stets im Schatten stand
Zusammenfassung
Von seiner Mutter Alienor wurde er nie gewürdigt und neben seinem überlebensgroßen Vater Henry Plantagenet verblasste er bisher stets. Doch nun gehört die Krone Englands ihm – John Ohneland. Seine Macht fußt allerdings auf einem brüchigen Frieden: Zwischen der neu auflodernden blutigen Fehde mit Frankreich und der Rebellion seiner eigenen Barone droht John schon bald aufgerieben zu werden. Und auch sein Halbbruder Will, dem er stets vertraut hat, scheint sich mehr und mehr von ihm zu entfernen. Ist das der Preis der Macht – oder wirft John selbst einen dunklen Schatten auf alles? Dennoch wagt er es, zu lieben: Aber wird Tess, eine Vertraute seiner Mutter, ihm Frieden bringen … oder den größten Schmerz?
Ein detailreich ausgeschmückter Roman für Fans von Sabine Ebert und Ken Follett.
Mohn und Ginster: Der fesselnde Abschlussband der großen Saga über die umstrittenste Königsfamilie des Mittelalters. Jeder Band kann unabhängig gelesen werden.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Über dieses Buch:
Von seiner Mutter Alienor wurde er nie gewürdigt und neben seinem überlebensgroßen Vater Henry Plantagenet verblasste er bisher stets. Doch nun gehört die Krone Englands ihm – John Ohneland. Seine Macht fußt allerdings auf einem brüchigen Frieden: Zwischen der neu auflodernden blutigen Fehde mit Frankreich und der Rebellion seiner eigenen Barone droht John schon bald aufgerieben zu werden. Und auch sein Halbbruder Will, dem er stets vertraut hat, scheint sich mehr und mehr von ihm zu entfernen. Ist das der Preis der Macht – oder wirft John selbst einen dunklen Schatten auf alles? Dennoch wagt er es, zu lieben: Aber wird Tess, eine Vertraute seiner Mutter, ihm Frieden bringen … oder den größten Schmerz?
Über die Autorinnen:
Sylvie von Frankenberg zog es nach ihrem Studium nach Frankreich. Zehn Jahre lang lebte sie in Paris und berichtetet von dort für deutsche Sendeanstalten über französische Politik und Kultur.
Katrin von Glasow lebte viele Jahre in England. Sie arbeitete als Regisseurin an Filmen und Fernsehspielen mit überwiegend historischem Thema.
Bei dotbooks veröffentlichten Katrin von Glasow und Sylvie von Frankenberg gemeinsam ihre große Plantagenet-Aquitanien-Saga mit den Romanen »Henry und Alienor«, »Der Bastard« und »Der vierte König«.
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eBook-Neuausgabe Oktober 2024
Copyright © der Originalausgabe 2005 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/IrinaAlexDesign, photomaster, Valenton Agapov und AdobeSt0ck/Taufiq
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)
ISBN 978-3-98952-202-2
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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an info@dotbooks.de.
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Sylvie von Frankenberg & Katrin von Glasow
Der vierte König
Die Plantagenet-Aquitanien-Saga 3
dotbooks.
Stammbaum
1174
Ostern lag spät in diesem Jahr, und es war ungewöhnlich warm für den Monat April.
Der Mönch, der die hölzerne Außentreppe des Palas hinunterstieg, beschattete seine Augen mit der Hand. Suchend schweifte sein Blick über das geschäftige Treiben im Burghof von Nottingham.
»John!«, rief er dröhnend. »Waschen und umziehen. Die Gäste müssen bald hier sein!«
Seine Sandalen klatschten auf den Eichenbohlen. Auf der vorletzten Stufe blieb er stehen. »Hat jemand die Jungen gesehen?«, rief er über den Hof. Ein Knecht, der die Hufe eines Pferdes auskratzte, hob den Kopf. »Eben waren sie noch da.« Mit dem Kinn wies er in Richtung Burgtor. »Vielleicht sind sie ja rausgelaufen. Macht John doch immer.« Er lächelte wohlwollend.
Zornig eilte der Mönch über den Platz.
Sie hatten ihn beide gehört und pressten sich enger an die Mauer. Ihre hellbraunen Kittel verschmolzen fast mit den grob behauenen Steinen, die zehn Meter über ihnen in die Höhe ragten.
»John, William! Ich weiß, dass ihr da seid. Ich gebe euch fünf Minuten, dann seid ihr im Waschhaus!«
Die beiden Kinder hielten die Augen geschlossen. Der Junge mit den braunen Haaren wagte als Erster, sie zu öffnen. »Komm, Will«, wisperte er triumphierend. »Er ist weg und hat uns nicht gesehen. Lass uns zum Baum schleichen.« Kichernd vor Aufregung zog er den Gefährten mit. Barfuß liefen sie geduckt den Berghang hinunter.
Oben auf den Zinnen beobachtete einer der Wächter, wie die Kinder kurz darauf die große Straße überquerten und im Geäst der alten Eiche verschwanden. Der Mann überlegte, ob er sie melden sollte. Schließlich zuckte er gutmütig mit den Schultern und wandte sich ab.
Aufatmend ließ John sich auf das Brett fallen, das sie vor ein paar Tagen gemeinsam heraufgeschleppt hatten. »Bei schönem Wetter kann ich bis nach London sehen«, behauptete er stolz.
»Na, na«, sagte Will. »Ein Reiter braucht fünf Tage bis nach London. So weit kann kein Mensch sehen. Und außerdem ... bis auf die Straße gibt es ja nur Wald.« Er wandte den Kopf und blickte furchtsam zur Burg hinauf, die über den mächtigen Mauern thronte.
»Wir werden wieder Schläge kriegen.«
John schob eine Haarsträhne aus der Stirn. Dann kratzte er den Schorf von seinem Knie. »Lass uns das Spiel spielen«, bat er. »Du darfst auch anfangen.«
Will lachte. »Mir fällt aber bald nichts mehr ein.« Nach einem kurzen Seitenblick auf den Gefährten räusperte er sich und begann: »Mein Vater war in Wales und hat gegen sie gekämpft.«
»Mein Vater war an der schottischen Grenze und hat gegen sie gekämpft.«
»Mein Vater beschützt ... « Will suchte nach den richtigen Worten.
» ... die Juden«, soufflierte John. »Jetzt bin ich dran.« Er grinste: »Mein Vater ist der mächtigste Mann im ganzen Land.«
»Und meiner ist der mächtigste in der Normandie.«
»Und meiner im Anjou.« Sie redeten immer schneller. Will boxte John in die Seite. »Meiner macht mit dem französischen König einfach so!« Er schnippte mit den Fingern.
»Und meiner war mit jemandem befreundet, der dann ein Heiliger wurde!« John nickte zufrieden. »Das kannst du nicht überbieten.« Will fuhr sich nachdenklich durch das blonde Haar. »Doch. Kann ich! Meiner ist wie Cäsar!«
John war beeindruckt. Eine Weile schwieg er. Dann sagte er ernsthaft: »Und meiner ist wie Gott!«
Will überlegte verblüfft. »Das haben wir ja noch nie gesagt. Wie Gott ... Darf man das überhaupt?«
»Wir dürfen das«, antwortete John. »Weil’s ja auch stimmt.« Er rieb seinen Hinterkopf an der rauen Rinde. »Dies ist mein absoluter Lieblingsplatz auf meinem absoluten Lieblingsbaum. Warum baut man eigentlich keine Burgen auf Bäume?«
»Ja, das wäre was!« William fand die Idee spannend und bedachte die Vor- und Nachteile, als John ihn mit der nächsten Frage überfiel.
»Was ist der Unterschied zwischen einer Hure – ich meine, einer normalen Hure – und einer Clifford-Hure?«
Will zuckte mit den Schultern. »Wer hat das gesagt?«
John schaute demonstrativ in eine andere Richtung. »SIE.«
Eine Weile schwiegen sie und lauschten auf den Wind, der durch die Äste fuhr. Eine Amsel flog auf einen Ast ganz in ihrer Nähe. Neugierig blickte der Vogel zu ihnen hinüber. Will war versucht, den Arm auszustrecken, um ihn zu berühren. »Wann?«, fragte er leise.
»Weihnachten. In Winchester.«
»Und warum erzählst du das erst jetzt?«
John schob das Kinn vor. »Weil es vielleicht nicht so wichtig ist.« Er rückte dichter an den Gefährten heran. »Sie sagt manchmal unfreundliche Dinge. Nur gut, dass sie in Old Sarum ist. Stell dir vor, sie wäre immer bei uns. Was wir dann erst zu hören kriegten!« Zärtlich legte er den Arm um den Freund. »Sie wird uns nie auseinanderbringen. Schließlich ist unser Vater der mächtigste Mann der Welt!«
Oben von der Burg ertönten Fanfarenklänge. Will beugte sich vor. »Sie kommen!«
Aufgeregt blickten sie dem Tross Reiter entgegen, deren Hufgetrappel nun deutlich zu vernehmen war.
Johns Herz begann zu klopfen. Er versuchte vergeblich, die auftauchenden Pferde zu zählen. »Es sind mindestens so viele wie damals beim Hoftag in Winchester«, murmelte er andächtig. »Sieh nur die vielen Fahnen.« Mit einem Ruck riss er den Gefährten zurück. »Mach dich klein. Niemand darf uns sehen.«
»Aber du musst sie doch begrüßen – außerdem hast du ein Geschenk für sie.«
John nagte an seiner Unterlippe. »Ich weiß nicht.« Er zögerte. »Vielleicht findet sie es auch gar nicht schön.«
Will wurde ärgerlich. »Wenn ich denke, wie lange du dazu gebraucht hast, und jetzt willst du es nicht einmal überreichen.« Die Reiter kamen näher. Deutlich waren das Schnauben der Pferde und das Klirren der Kettenhemden zu hören. John stockte der Atem, als er sie erblickte. Sie ritt in der Mitte des Zuges. Ihr roter Umhang hob sich deutlich von denen ihrer Hofdamen ab. John hielt den Atem an, als sie genau unter der Eiche die Hand hob und den Tross zum Stehen brachte.
»Das Pferd lahmt. Kontrolliert die Hufe«, befahl sie. Ohne auf einen der Ritter zu warten, nahm sie die Zügel in die linke Hand und saß ab. Durch die Zweige beobachteten die Kinder, wie sie ein paar Schritte machte und dann stehen blieb. Sie blickte hinauf zur Burg und lächelte. »Hoffentlich hat er sie nicht so verkommen lassen. Damals habe ich mich sehr bemüht, sie wohnlich zu machen.«
Später hätte keiner der Jungen sagen können, wie es passierte. Vielleicht lag es daran, dass John sich zu sehr nach vorne beugte. Plötzlich gab das Brett nach, und beide Kinder fielen hinunter.
Schwerter klirrten, Pferde scheuten. Nur die hoch gewachsene Dame im roten Umhang blieb völlig ungerührt.
»Steht auf und bewegt euch, damit ich sehen kann, ob ihr etwas gebrochen habt«, befahl sie. John biss die Zähne vor Schmerz zusammen. Mühsam richtete er sich auf. Seine Beine brannten wie Feuer. Dann streckte er die Hand nach Will aus.
»Komm, steh auf«, bat er flehentlich. Die Dame schob ihn zur Seite und beugte sich über den Gefährten. Dann zog sie die Handschuhe aus und hob vorsichtig Williams Lider. Ängstlich verfolgte John jeden ihrer Handgriffe.
»Ist er tot?«, fragte er.
Sie richtete sich wieder auf und wies ihre Begleiter an, den reglosen Jungen aufs Pferd zu heben. »Er ist ohnmächtig. Wir nehmen ihn mit zur Burg«, sagte sie. Mit einem Blick auf John fügte sie hinzu: »Du kannst mitkommen und auf deinen Freund Acht geben.« Sie streifte die Handschuhe wieder über. John starrte sie an.
»Nun? Was gibt es?«, fragte sie und ging hinüber zu ihrem Pferd. John strich seinen schmutzigen Kittel glatt und stand stramm. »Madame, ich möchte Euch auf das Höflichste auf unserer Burg Nottingham willkommen heißen«, stieß er hervor.
»Noch sind wir ja nicht da«, entgegnete sie trocken. Dann drehte sie sich langsam zu ihm um. »Was hast du eben gesagt?«
John wand sich vor Verlegenheit und verschränkte die Hände ineinander. Sie trat vor ihn und hob sein Gesicht zu sich empor. Er erkannte ihr Parfum sofort wieder. Sein Herz pochte bis zum Hals. Da lächelte sie. »In diesem Aufzug hätte ich dich fast nicht erkannt. Ich danke dir für die artige Begrüßung.« Ihre grünen Augen funkelten spöttisch. »Weiß dein Vater, dass du dich hier auf der Straße herumtreibst?«
John schüttelte heftig den Kopf. »Oh nein. Ich muss mich auch noch waschen und umziehen. Aber ich habe ein Geschenk für Euch.« Eilig kramte er in seiner Tasche und sortierte die verschiedenen Schätze, ehe er ihr einen kleinen Gegenstand überreichte, der in ein schmutziges Tuch gewickelt war. Er sah zu, wie sie sein Geschenk auspackte, und hielt den Atem an.
»Wie hübsch.« Sie lachte. »Und wie sinnig: eine Krone aus Nägeln.«
John strahlte. »Erst habe ich sie aufgemalt, und dann habe ich sie in das Brettchen geklopft. Wenn Ihr wollt, dann kann man es als Buchschließe benutzen. Da sind Scharniere dran.« Sie beugte sich vor und streichelte seine Wange. »Was für ein liebes Geschenk«, sagte sie.
John geleitete sie zu ihrem Pferd. »Papa sagt, Ihr hättet viele und schöne Bücher.«
Sie sah auf ihn hinab. »Was sollte ich in Sarum auch sonst haben, mein Junge.« Dann reichte sie ihm die Hand. »Wenn du magst, darfst du bei mir mitreiten.«
1175
Zeit seines Lebens würde John die Kathedrale von York mit dem Stundenglas verbinden. Und niemals würde er jenes Gespräch vergessen, das er in der vergangenen Nacht unfreiwillig belauscht hatte. Zum wiederholten Male versuchte er, die Erinnerung daran von sich zu schieben.
Seit vier Stunden saß er nun schon neben Will in der Sakristei, konjugierte lateinische Verben und versuchte sich an einer Übersetzung. Immer wieder glitt sein Blick hinüber zu dem großen Stundenglas, das auf dem Pult von Bruder Francis thronte. Der Mönch hatte den Kopf in beide Hände gestützt und schnarchte leise vor sich hin.
John war müde. Erst spät in der Nacht waren sie gestern in York angekommen. Wie immer war nichts vorbereitet gewesen, wo er und Will hätten schlafen können. Schließlich hatte man sie kurzerhand mit ein paar Decken in der Sattelkammer untergebracht.
John starrte auf das Stundenglas. Er beobachtete den feinen Sand, der unaufhörlich durch den engen Flaschenhals rieselte, und hörte, wie Will die Feder kratzend über sein Blatt führte.
»Niemals würde irgendjemand es wagen, Prinz Richard im Pferdestall schlafen zu lassen«, hatte einer der Knappen gesagt, die ihre Pferde versorgten.
John spürte, wie sein Herz zu pochen begann, als er sich daran erinnerte, wie der andere gelacht hatte. »Kein Wunder. Bei dem Prinzen sieht man eben den Unterschied zwischen denen da oben und unsereins. Königssöhne gehören nicht auf Stroh gebettet, sondern brauchen seidene Laken.«
Den Rest der Nacht hatte John wach gelegen und darüber nachgedacht. »Man sieht es eben ... « Was hatte sein Bruder Richard, das er nicht hatte? Natürlich sah Richard besser aus. So wie ihn, mit seiner hohen Gestalt und den blonden Locken, hatte John sich immer einen Ritter der Tafelrunde vorgestellt. Aber Richard war erwachsen, während er immer noch ein Kind war.
Der feine Sand lief und lief.
Bruder Francis gab sich einen Ruck und öffnete die Augen. »Nun John, bist du fertig mit deiner Arbeit?«
John schüttelte den Kopf. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Will seinen Federhalter senkte und ihn ängstlich musterte.
»Bring die Seiten her«, befahl der Mönch.
»Bitte!«, entgegnete der Junge entschieden.
Der Mönch war einen Moment lang irritiert. »Ich versteh nicht ... « John blieb sitzen. »Ich sagte, Ihr sollt ›bitte‹ zu mir sagen.« Will starrte ihn mit offenem Mund an. Bruder Francis legte die Hände wie zum Gebet gegeneinander und holte tief Luft. »Komm her und bring die Peitsche mit.«
»Ich denke, wir sollten die Unterrichtsstunde jetzt beenden«, erwiderte John. Der Mönch lief rot an und erhob sich drohend.
»Komm Will, wir gehen.« John trat um den Tisch herum und auf Bruder Francis zu. Spielerisch glitt sein Zeigefinger einige Male über die Wölbungen des Stundenglases, ehe er es plötzlich ergriff und auf den Boden schmetterte. Er sah zu, wie es in tausend Scherben zersplitterte, wie der Sand über den Steinboden rieselte, und lächelte zufrieden. »Heute beginnt eine neue Zeit!«
Mit einem Satz sprang der Mönch auf, lief um den Tisch herum und schlug ihm ins Gesicht. »Heb die Scherben auf!«, schrie er unbeherrscht. Als der Junge keine Anstalten machte, zwang er ihn mit einem Griff zu Boden. Es kümmerte ihn nicht, dass Johns bloße Knie bluteten. Außer sich vor Zorn schüttelte der Mönch ihn hin und her. Johns Blut vermischte sich mit dem Sand und färbte ihn dunkelbraun. »Heb es auf!«, brüllte Bruder Francis erneut. Speichel sammelte sich in seinen Mundwinkeln.
»Nein. Bitte nicht«, flehte Will. Da John keine Anstalten machte, dem Befehl nachzukommen, hastete er nach vorne, um ihm zu helfen. John rührte sich nicht. Wutentbrannt legte ihm der Mönch beide Hände um den Hals und drückte zu. »Du wirst tun, was ich dir befehle«, keuchte er, »du hebst das jetzt auf.« John fühlte, wie das Blut in seinen Ohren toste, die Augen traten hervor. Er rang nach Luft.
Will war an seiner Seite. Mit zitternden Fingern klaubte er die Splitter auf. Zwischendurch schluchzte er unaufhörlich: »Bitte nein, bitte, lasst ihn.« Immer noch hielt der Mönch den Jungen in seiner eisernen Umklammerung. Johns Gesicht verfärbte sich bläulich.
Außer sich vor Entsetzen sprang Will auf, griff nach dem nächsten Stuhl und schlug ihn mit aller Wucht auf den Kopf des Klosterbruders. Dessen Körper drehte sich langsam um sich selbst, dann fiel er vornüber.
»John, komm«, stammelte Will. »Wir müssen fliehen. Er bringt uns sonst um.« Benommen schüttelte John den Kopf. Seine Hände tasteten zum Hals, als er versuchte zu sprechen. »Komm«, drängte Will. »Wir müssen weg sein, ehe er zu sich kommt.«
»Nein«, krächzte John. Er taumelte bei dem Versuch, sich aufzurichten. Deutlich waren die blauen Striemen an seinem nackten Hals zu sehen. Er streckte die Hand nach Will aus. »Er muss lernen, dass ich der Sohn des Königs bin!«
1176
Wolkenfetzen jagten über den Himmel. Der Mond warf geisterhaftes Licht auf die Türme der Burg von Winchester. Gerade eben hatte der Nachtwächter die elfte Stunde ausgerufen. John stand im Dunkeln am Fenster und starrte hinaus. Als es klopfte, antwortete er nicht. Er hörte, wie die Tür geöffnet wurde. »Ich brauche nichts. Lasst mich allein«, sagte er abweisend. »Guten Abend, John. Störe ich dich?«
Ungläubig drehte er sich um. »Ihr, Lord Robert?«, flüsterte er.
Der eintretende Mann fragte ruhig: »Warum so offiziell? Wenn du darauf bestehst, muss auch ich dich anders anreden.«
John stieß einen Laut aus, der nach Schluchzen klang. »Seit wann seid Ihr in der Stadt, Onkel?« Eilig durchquerte er die Kammer. »Wartet, ich mache Licht.«
»Bienenwachs ist für mich noch immer der größte Luxus«, lachte Robert, als es schließlich heller wurde. »Komm, lass dich anschauen!« Er legte John beide Hände auf die Schultern. »Du bist ja fast so groß wie ich ..., aber ein bisschen dünn, würde ich sagen. Dein Vater hat mir gesagt, du isst zu wenig. Er macht sich Sorgen.« John senkte den Blick. »Habt Ihr ihn schon gesehen?«
Robert nickte. »Nur ganz kurz, ehe er die römischen Gesandten empfangen musste. Sie sind immer noch bei ihm. Und dann wartet noch jemand aus Aquitanien auf ihn.« Er verdrehte die Augen. »Ich möchte nicht König Henry sein. Niemals Zeit haben ... «
Sie setzten sich nebeneinander auf die Schemel vor den Kamin.
Robert beugte sich vor und stocherte in der Glut, dass die Funken stoben.
»Darf ich Euch etwas zu trinken anbieten?«, fragte John. »Ich habe jetzt einen Kammerdiener.« Er lächelte verlegen und streckte seine Beine näher zum Feuer.
»Und sehr gute Stiefel trägst du auch«, sagte Robert freundlich. »Ja. Hier hat sich viel geändert. Jetzt, da ich neun geworden bin! Soll ich um Wein für Euch bitten?«
Robert schüttelte den Kopf. »Lass nur. Wenn dein Vater endlich Zeit für mich hat, werde ich noch genug zu trinken bekommen.« Er starrte in die Glut. »Neun Jahre, sagst du ... so lange ist das alles schon her.«
Er richtete sich auf und musterte den Jungen. »Magst du mir erzählen, was dich bedrückt?«
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Neuausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2024
- ISBN (eBook)
- 9783989522022
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2024 (Oktober)
- Schlagworte
- Historischer Roman Historienroman Rebecca Gable Elizabeth Chadwick Historisches Epos Philippa Gregory Die Tudors Sabine Weigand Neuerscheinung eBooks