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Stonehenge: Säulen des Himmels

Historischer Roman – Der Mythos um eines der rätselhaftesten Bauwerke der Welt wird lebendig!

©2024 822 Seiten

Zusammenfassung

Eine Mission der Götter

England, 3000 vor unserer Zeitrechnung: Von Geburt an wird der Waise Moloquin von seinem Dorf als Ausgestoßener behandelt. Von seinem Häuptling in die Sklaverei verkauft, kehrt er erst viele Jahre später in die Siedlung zurück, im Gepäck das wertvolle Geheimnis der Bronzeherstellung. Schnell erkämpft Moloquin sich den Respekt seiner Sippe und behauptet sich als neuer Anführer, angetrieben von einem einzigen, unerschütterlichen Ziel: dem Bau eines steinernen Rundhauses mit gigantischen Säulen, das die irdische mit der göttlichen Welt verbinden soll – ein Bauwerk, das die Welt noch nicht gesehen hat, so groß und mächtig, dass es die Menschheit an seine Grenzen bringen wird. Mit eisernem Willen setzt Moloquin alles daran, seine Vision zu verwirklichen … aber zu welchem Preis?

»So spannend ist historischer Lesestoff nur selten zu haben.« Brigitte

Ein packender historischer Roman für alle Fans von Ken Follett und Ulf Schiewe.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

England, 3000 vor unserer Zeitrechnung: Von Geburt an wird der Waise Moloquin von seinem Dorf als Ausgestoßener behandelt. Von seinem Häuptling in die Sklaverei verkauft, kehrt er erst viele Jahre später in die Siedlung zurück, im Gepäck das wertvolle Geheimnis der Bronzeherstellung. Schnell erkämpft Moloquin sich den Respekt seiner Sippe und behauptet sich als neuer Anführer, angetrieben von einem einzigen, unerschütterlichen Ziel: dem Bau eines steinernen Rundhauses mit gigantischen Säulen, das die irdische mit der göttlichen Welt verbinden soll – ein Bauwerk, das die Welt noch nicht gesehen hat, so groß und mächtig, dass es die Menschheit an seine Grenzen bringen wird. Mit eisernem Willen setzt Moloquin alles daran, seine Vision zu verwirklichen … aber zu welchem Preis?

Über die Autorin:

Cecelia Holland wurde in Nevada geboren und begann schon mit 12 Jahren, ihre ersten eigenen Geschichten zu verfassen. Später studierte sie Kreatives Schreiben am Connecticut College unter dem preisgekrönten Lyriker William Meredith. Heute ist Cecelia Holland Autorin zahlreicher Romane, in denen sie sich mit der Geschichte verschiedenster Epochen und Länder auseinandersetzt.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre historischen Romane »Im Tal der Könige«, »Die Königin von Jerusalem«, »Die Ritterin«, »California – Der Ruf der Freiheit«. »Stonehenge – Säulen des Himmels«, »Im Schatten der Borgias«, sowie ihre Norsemen-Saga mit den Einzelbänden »Der Thron der Wikinger« und »Der Erbe der Wikinger«.

Die Website der Autorin: thefiredrake.com/

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eBook-Neuausgabe Oktober 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1985 unter dem Originaltitel »Pillar of the Sky« bei Alfred A. Knopf, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1987 unter dem Titel »Säule des Himmels« bei Piper

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1985

Cecelia Holland

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1987 R. Piper GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/donatas1205, bomg, Lukas Szwaj und Adobe Stock/VGSPhotography, britaseifert

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3- 98952-204-6

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Cecelia Holland

Stonehenge – Säulen des Himmels

Historischer Roman

Aus dem Amerikanischen von Karin Kersten

dotbooks.

Vorbemerkung

Wenn man bedenkt, wie alt und wie berühmt Stonehenge ist, überrascht es, wie wenig man darüber weiß. So weiß man nicht, welchen Wert und welche Bedeutung es für die Völker hatte, die es, über einen Zeitraum von tausend Jahren hinweg, erbaut haben, indem sie zu Anfang das Erdreich aufschütteten, um einen Ringwall zu errichten, und später dann und wann Löcher gruben, in die sie zuweilen Steine setzten. Wir haben eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wo die Steine standen; wir wissen auch einiges über ihre Herkunft; wir können erklären, wie steinzeitliche Ackerbauern ohne Rad, ohne Lasttiere, ohne hilfreiche Metallwerkzeuge überhaupt imstande waren, dieses Werk zu vollbringen. Doch selbst hinsichtlich dieser schlichten konkreten Fakten bestehen erhebliche Zweifel.

So nimmt Stonehenge, seiner Bedeutung entkleidet, alles entgegen, was wir ihm antragen, und gibt uns immer nur uns selbst zurück. Gläubige Menschen halten es für einen Tempel; Astronomen benutzen es als Observatorium. Im 19. Jahrhundert wollte ein Eisenbahnbauer es sogar in einen Bahnhof verwandeln. Da ich eine Geschichtenerzählerin bin, nehme ich es als Stück einer Geschichte aus einer Zeit, in der Geschichten das machtvollste Mittel waren, über das die Menschen verfügten im Umgang mit dem wirbelnden Universum, von dem sie umgeben waren – eine Ära, die auch für uns noch nicht beendet ist.

Kapitel 1

Die Sonne ging auf. Erst schickte die Mutter aller Dinge nur ihre Vorhut aus, damit sie den Himmel erhellte und der Erde den neuen Tag ankündigte, doch dann erwachte unter ihrer ersten wärmenden Berührung alles Leben. Die Vögel begannen, im hohen Gras, in den Bäumen, die sich hier und da in der welligen Hügellandschaft erhoben, in den Gärten der Pole, auf den Strohdächern der Langhäuser zu singen, zu zwitschern und zu rufen. Die kleinen braunen Wassermäuse huschten aus ihren Schlupflöchern am Flußufer hervor, und die Ziegen standen meckernd von ihrem Strohlager auf und strebten dem schmutzigweißen Gatter zu, um aufs Melken zu warten. Die Türen der Langhäuser öffneten sich, und die Frauen und Kinder der Folc kamen heraus, um sich gähnend im Sonnenlicht zu recken, und die riesige Tür des Rundhauses wurde aufgestoßen, obwohl der mächtige Ladon nicht da war; doch war das Rundhaus auch in seiner Abwesenheit von seiner Macht erfüllt.

Im Dickicht am Flußufer begann die Schar der Jungen munter zu werden. Kaum erwacht, schwärmten sie schon in alle Himmelsrichtungen aus und suchten nach Eßbarem. Während ihre Mütter sich in den Langhäusern noch verschlafen am Morgenfeuer zu schaffen machten, streiften die Jungen bereits durch die Gärten der Folc, um Vögel und Schlangen aufzustöbern, und suchten den Waldrand nach wilden Beeren ab.

Der Anführer der Schar war Ladons Sohn. Er war groß und blond, und sein Körper war anmutig gerundet. An seiner Kleidung hatten sämtliche Frauen der Folc liebevoll mitgewirkt. Er trug einen dicken Stock in der Hand, mit dem er nach jedem Jungen schlug, der ihm zu nahe kam, und er schrie den anderen Befehle zu, die ihm von allem, was sie fanden, die Hälfte brachten.

Wie man es mit seinem Vater hielt, so hielt man es auch mit Ladons Sohn; jeder Junge wollte ihm mehr bringen als alle anderen, und er brauchte kaum die Hand zu heben, da hatte er schon, was er wollte.

Unterdessen war die Sonne am Himmel emporgestiegen. Ihr freundliches, segensreiches Licht lag über dem Land der Folc, dem breiten Streifen unebenen Bodens, der sich zwischen dem Wald im Osten und den zerklüfteten Hügeln im Westen hinzog. Das war weibliches Land, was da satt und üppig unter dem Gras lag, nicht flach hingestreckt, sondern über schwellende Hügel sanft ins Sonnenlicht ansteigend und dann wieder weich abfallend in Mulden und Senken, in die die Sonne nur mittags kam. Die Kiefern und das Kieferngestrüpp, die diesen Boden einst völlig bedeckt hatten, wichen, während das Klima insgesamt trockener wurde und die Sümpfe schwanden, und es entstand offenes Grasland, dessen Krume über unnachgiebigem Kreidefels lag, und dort, wo der Boden tiefwurzelnden Bäumen freundlicher gesonnen war, hatten auch Eichen und Eschen Fuß gefaßt. Doch diese Veränderungen vollzogen sich für die Folc so langsam und auf so wohltätige Weise, daß davon nur in Geschichten die Rede war.

Im Sonnenschein verließen die Frauen die Langhäuser und stiegen den Hang zu den Gärten hinauf. Es war Hochsommer, kurz nach der Großen Versammlung, und auf den unregelmäßigen Streifen Ackerland, die die Frauen bearbeiteten, wartete eine üppige Ernte: Die Ähren der Gerste waren prall, die Platterbsen, die sie an Pfählen hochbanden, damit die Mäuse die jungen Schoten nicht fraßen, hingen zum Pflücken bereit, und aus dem Boden quollen die Zwiebeln. Die Frauen hatten ihre Geräte dabei, die Hirschhornpicken, die Holzrechen mit ihren Flintsteinzinken, die Hacken aus Muschelschalen. Die kleineren Kinder trugen die Körbe.

Vom Waldrand oben überblickte Ladons Sohn die ganze Geschäftigkeit gewissermaßen aus der Vogelperspektive. Er versuchte jedoch nicht, unter den gebückten Gestalten seine Mutter auszumachen. Er war ja schon ein halber Mann und hatte mit niederer Arbeit nichts im Sinn. Stattdessen führte er seine Schar ohne Eile den Waldrand entlang, und seine Aufmerksamkeit galt dabei zur Hälfte den Beeren und zur Hälfte Moloquin.

Die anderen Jungen wußten, was sie zu tun hatten. Sie überschlugen sich geradezu, um als erste an einem Brombeerdickicht anzugelangen und die reifen Früchte zu pflücken, und einige wagten sich sogar ein wenig in den Wald hinein und stießen dabei verwegene Schreie aus, stampften mit den Füßen auf und hielten eifrig Ausschau nach dem Feind. Ladons Sohn schlenderte weiter und probierte ein paar Beeren. Die Zeit der kleinen roten Beeren, die Mutters Küsse hießen, war vorbei, und für die dicken purpurroten von den dornigen Büschen, die Bärenbluttropfen hießen, war es noch zu früh. Er verzog das Gesicht und warf die sauren Dinger weg, die man ihm gegeben hatte. Der nächste Junge, der es wagen würde, ihm grüne Beeren zu bringen, würde seinen Stock zu spüren bekommen.

Doch da kam der Ruf: »Moloquin! Moloquin!«

Er machte einen Luftsprung, als er das hörte. Vor ihm, wo auf einer Hügelkuppe eine Eichengruppe aufragte, jagten die Jungen auf einen von Gebüsch gesäumten Bach zu und stießen dabei wilde Schreie aus. Viele schwenkten Stöcke. Ladons Sohn stürmte hinter ihnen her.

Er schrie mit ihnen; er schwenkte seinen Stock über dem Kopf. Gemeinsam hetzten sie auf das Gesträuch zu. Sie hatten es fast erreicht, da brach ein nackter brauner Junge aus der Deckung hervor und lief vor ihnen davon.

Das Gejohle und Gepfeife der Bande wurde ohrenbetäubend. Viele holten zum Schlag gegen den Jungen aus, ehe sie nahe genug heran waren, um ihn treffen zu können, und unversehrt schoß die Waise der Wälder davon und war plötzlich im hohen Gras verschwunden. Wie die bodenbrütende Trappe konnte er sich nach Belieben unsichtbar machen. Keuchend führte Ladons Sohn die anderen in einer weit auseinandergezogenen Kette über den Hang, wo er Moloquin zuletzt gesehen hatte.

Ratlos verhielten sie ihren Schritt. Ladons Sohn bohrte seinen Stock in den Boden, hieb dann auf einen Brombeerstrauch ein und schaute zum Wald hinauf, der rechts von ihm auf seine unheimliche Weise emporragte. Der Wald war gefährlich, böse und dunkel; ein Grund, weshalb alle Moloquin haßten, war, daß er aus dem Wald gekommen war und dort immer noch lebte, wenn er nicht gerade in der Siedlung der Folc sein Unwesen trieb. Ladons Sohn haßte Moloquin noch aus anderen Gründen, vor allem aber, weil sein Vater ihm befohlen hatte, Moloquin zu hassen. Ladons Sohn tat immer, was sein Vater von ihm verlangte. Jetzt schritt er mit seinem Stock methodisch die wellige Rundung des Abhangs ab und stocherte in mutmaßlichen Verstecken herum, bis mit einem Mal ein paar Schritte vor ihm der Boden zu explodieren schien und der magere braune Junge wie aus dem Nichts emporschoß und mit federndem, wirrem schwarzen Haarschopf durch das Gras davonjagte.

»Heijaaaaa!«

Die Meute der Jungen raste ihm nach. Einmal mehr warfen sie Stöcke und Steine hinter ihm her, ohne ihn jedoch zu treffen. Moloquin führte sie blitzschnell unmittelbar am Fuß des Hanges entlang, der zum Wald anstieg; hier war das Gras kürzer, und es gab keinerlei Versteck, und das flüchtige Wild rannte aus Leibeskräften. Ladon und seine Meute blieben ihm verbissen auf den Fersen. Ladon wurde sein Stock zu schwer, doch er wagte nicht, ihn fallen zu lassen: Der Stock war für ihn das Zeichen seiner Macht. Seine Lungen begannen zu brennen. Der vor ihm laufende Moloquin hielt sich stets außerhalb seiner Reichweite. Wenn Ladons Sohn plötzlich das Tempo verschärfte, rannte auch Moloquin schneller, als hätte er Augen im Hinterkopf; er sah sich niemals um, sondern rannte mit angewinkelten Armen und kurzen, kraftvollen Schritten immer nur weiter. Wenn Ladons Sohn langsamer wurde, ermüdete, wurde auch Moloquin langsamer und sorgte so dafür, daß der Abstand zwischen ihnen immer gleich groß blieb.

Sie bekamen Moloquin einfach nicht zu fassen, so ausdauernd sie ihn auch hetzten, und nun erblickte Ladons Sohn, atemlos und mit schmerzenden Beinen, den uralten Wall und die Steine, die so aussahen, als wollten sie gleich umstürzen, die Stätte der Toten, die vor ihnen auftauchte, und er blieb stehen.

Die anderen Jungen blieben ebenfalls stehen. Keiner wollte näher an die Stätte der Toten herangehen, und während Moloquin darauf zurannte, schrien sie und warfen Steine und Stöcke hinter ihm her und lachten über seine Verrücktheit.

»Die Geister werden ihm das Blut aussaugen«, sagte Ladons Sohn, und die anderen Jungen scharten sich um ihn, pflichteten ihm lärmend bei und beeilten sich, diese Prophezeiung durch immer neue Variationen zu bekräftigen.

»Die Geister werden sein Fleisch fressen!« »Die Geister werden ihm die Knochen abnagen!«

»Kommt, gehn wir nach Hause«, sagte Ladons Sohn, »wir müssen die Ziegen auf die Weide bringen, und vielleicht kriegen wir Käse. « Er schulterte seinen Stock und war hochbefriedigt, weil es ihnen erneut gelungen war, Moloquin zu vertreiben. »Der wagt es nicht noch einmal, uns zu nahe zu kommen.« Ein paar Schritte lang stolzierte er vor ihnen her, obwohl er müde Beine hatte.

Die Jungen kämpften um einen Platz in seiner Nähe. Die Kleinsten, die erst seit kurzem zur Bande gehörten, wurden an den Rand geschubst, und die Größten und Stärksten eroberten sich einen Platz an der Seite von Ladons Sohn. So lief die Meute den sonnengedörrten Abhang hinab, kehrte zu den Gärten zurück, wo ihre Mütter arbeiteten, und führte die Ziegen auf die Weide.

Der junge Moloquin hatte seinen Vater nicht gekannt. Seine Mutter war im Winter, bevor er das Dorf gefunden hatte, am Bluthusten gestorben. Von den Folc kümmerte sich niemand um ihn, und Ladon haßte ihn. Alles, was die Folc nicht selbst verbrauchten, gaben sie Ladon; deshalb bekam Moloquin nichts.

Er stand oben auf dem Wall und schaute der Schar der Jungen nach. Sie haßten ihn, immer jagten sie ihn, und gelegentlich kamen sie ihm nahe genug, um ihn zu verletzen, doch er sehnte sich nach ihnen; sie waren seine einzige Gesellschaft. Die Jagd heute war ihm zu rasch zu Ende gegangen. Er stand auf dem Wall und schrie und winkte, doch sie beachteten ihn nicht, wenn sie ihn überhaupt sahen. Er erkannte, daß er zu schnell hierhergekommen war. Sie fürchteten sich vor diesem Ort, so daß er hier zwar vor ihnen sicher war, aber auch allein blieb.

Er wandte sich um und lief die innere Böschung des Ringwalls hinunter. Der Wall war aus einem weiten Kreis aus aufgeworfener Erde und Kalkstein gebildet, keinem vollständigen Kreis allerdings, denn er war nach Nordwesten und Osten hin unterbrochen, als wären da Eingänge für die Menschen, doch die Pole kamen fast niemals herein. Sie kamen nur herein, um ihre Toten auf dem Grasboden im Innern des Ringwalls abzulegen. Auch jetzt lagen wieder zwei Leichen nicht weit vom Fuß des hohen Steins drüben auf der anderen Seite des Rings – der Leichnam einer alten Frau und der eines Säuglings. Die Krähen pickten an ihnen herum, dreist genug, um sich durch Moloquins Anwesenheit nicht stören zu lassen. Über den grasbewachsenen Boden schritt er zwischen zwei aufrechtstehenden Steinen hindurch auf seinen Lieblingsplatz zu, den großen kantigen Stein auf der Nordseite. In der Höhlung an seinem Fuß hatte er seinen Schlafplatz.

Er liebte diesen Ort. Das Grauen, das die Folc hier empfanden, war ihm völlig fremd. Es war seine eigene kleine Welt, kreisrund, wie die Welt nun einmal war, und begrenzt durch den Horizont, wo der Himmel an den Kamm des Ringwalls stieß. Menschen gab es hier, abgesehen von den beiden Toten, zwar nicht, aber dafür waren da die Steine, von denen ein paar vereinzelt im Innern des Ringes standen, während die meisten einen Kreis bildeten. Die Ringsteine standen schief, und einige lagen im Gras begraben. Darüber wölbte sich nur der strahlende, gleißend-helle Himmel.

Er liebte diesen Ort, weil seine Mutter hier gewesen war. Sie war hier gestorben. Wenn er sie brauchte, kam er hierher, und sie antwortete ihm stets.

In der Höhlung am Fuß des großen Steines sitzend, schloß er die Augen und dachte an seine Mutter, und das Herz wurde ihm schwer. Groß war sie gewesen, jedenfalls in den Augen eines Kindes, und das lange Haar hatte ihr bis zur Hüfte gereicht, und ihre Stimme war wie der Eishauch des Winters gewesen, wenn sie zornig, ihre Arme wie die Wärme der Sonne, wenn sie liebevoll zu ihm war. Als sie starb, war er so entsetzt gewesen, als ginge es mit der ganzen Welt zu Ende.

Jedes Mal, wenn sie gehustet hatte, war Blut zwischen ihren Lippen hervorgequollen. Sie waren tief im Wald gewesen, weit weg von hier.

Sie hatte gesagt: »Halt mich so, wie ich es dir sage«, und er hatte sich mit seiner Last abgemüht, sie hatte sich auf Stöcke gestützt und an Bäume gelehnt, und so waren sie, unendlich langsam, durch den Wald vorangekrochen und schließlich am Rand des Graslands angelangt. Sie war so dürr und knochig, daß er jede einzelne Rippe sehen konnte. Er weinte, während er sie halb weitertrug, halb weiterschleifte. Ihre keuchende, gurgelnde Stimme trieb ihn an. »Weiter. Laß mich fallen, und ich bringe dich um, Junge, ich nehme dich mit mir! Weiter, los, elender Schwächling!« Schließlich hatte er sie ins Innere des Ringwalls gezerrt, und dort waren sie beide ins hohe Gras niedergesunken.

Und dort starb sie dann. Er hatte gesehen, wie der Geist aus ihr gewichen war: von ihr aufgestiegen war wie der Tau, der dampfend vom Gras aufsteigt, wenn die Sonne darauf scheint. Er klammerte sich an sie, rief sie zurück, er schüttelte sie. Sie wollte nicht zu ihm zurückkehren. Er wagte nicht, sie zu verlassen. Sein ganzes kurzes Leben lang hatte sie ihn gelenkt, ihn ernährt, ihn alles Notwendige gelehrt, ihn geschlagen, wenn er etwas falsch gemacht hatte, ihn geliebt, wenn er anstellig gewesen war; ohne sie wußte er nichts.

Er jagte die Krähen von ihr weg; tagelang saß er bei ihr, obwohl sein Magen sich schmerzhaft zusammenzukrampfen begann und die Kehle ihm brannte vor Durst. Er klammerte sich an seine Mutter. Dann waren eines Tages die ersten Menschen, die er außer ihr zu Gesicht bekommen hatte, in den Ring getreten.

Sie waren zu sechst und trugen einen siebten in ihrer Mitte: noch einen Leichnam. Während sie sich näherten, sangen sie und wedelten mit grünen Zweigen, und einer hatte einen kleinen Topf mit Kohle dabei, von dem ein übelriechender Rauch aufstieg. Sie betraten das Innere des Ringwalls durch die nordwestliche Öffnung und trugen den Leichnam langsam in die Mitte, wo sie ihn niederlegten und, immerfort singend, die belaubten Zweige über ihn breiteten. Und dann erblickten sie ihn.

Und sie. Sie war es auch, die bewirkte, daß sie schreiend davonliefen. Der Anblick seiner Mutter war es, der sie in die Flucht schlug. Unter Geschrei und Geheule rannten sie auf den Wall hinauf, drehten sich dort noch einmal um und schrien noch mehr. Sie rannten davon, und er folgte ihnen; sie rannten den ganzen Weg über das Grasland hinab, und er lief ihnen nach, und so sah er zum ersten Mal im Leben Ladons Dorf.

Als er es erblickte, blieb er wie angewurzelt stehen und starrte es an, verwundert und beglückt. Vier riesige Hütten standen da innerhalb eines Zauns aus Dornbüschen, Hütten, die viel größer waren als die, in der er und seine Mutter gelebt hatten, und die Höfe darum waren voller Menschen, darunter Kinder wie er, Frauen wie seine Mutter, viele, viele Menschen, die miteinander sprachen, arbeiteten, lachten, einander berührten, sich einander zuneigten, Auge in Auge, einander umarmten. Seine Haut begann zu kribbeln, so sehr verlangte es ihn nach Nähe, Schutz, der liebevollen Aufnahme unter seinesgleichen. Doch als er weiterging, freudig auf sie zuging, mit ausgestreckten Armen, hungrig und elend, da jagten sie ihn weg.

Und nun lebte er am Rand des Dorfes, fröstelte in der Kälte und stahl, was er nur kriegen konnte. Im Sommer fand er Obst und Wurzeln und Eier. Oft saugte er an den Eutern der Dorfziegen, wenn die Herden in der Sonne dösten.

Im Winter erstarrte er und schlief in hohlen Baumstämmen, unter Laubbergen. Er wuchs rasch zu einem mageren, sehnigen Jungen heran, dessen Ohr ebenso scharf auf alles lauschte, wie sein scharfes Auge alles mitbekam, hungrig nicht nur nach Nahrung. Er beobachtete die Pole jeden Tag, sooft er nur konnte, prägte sich ihre Gesichter ein, belauschte sie und versuchte, mochten sie ihn hassen oder nicht, soviel von ihnen mitzubekommen wie möglich. Sie waren seinesgleichen. Und doch war er anders; er war allein.

Es war der Niedrigwassermonat. Im Dorf trugen die Frauen in ihren besten Körben Wasser vom Fluß herauf, um ihre Pflanzen zu gießen; die Jungen, die zur Bande gehörten, hielten auf ihren Streifzügen entlang der Uferböschung nach Flintknollen Ausschau, die manchmal im Kalkstein zum Vorschein kamen – diese Flintsteine trugen sie dann stolz zum Rundhaus, zu den Männern, die Steine bearbeiteten. Doch diese Männer waren jetzt nicht da. Gemeinsam mit allen anderen Männern der Pole von Ladons Dorf verbrachten sie diese Zeit gewöhnlich am nördlichen Flußufer, wo sie fasteten und schwitzten und mit den Geistern redeten, denen diese Welt in Wirklichkeit gehörte.

Doch nun kehrten sie zurück und strömten als ungeordnete gewaltige Masse über die Ebene. In ihrer Mitte kam Ladon selbst internem Tragsessel herangewogt, der von einer Schar niedriggestellter Männer getragen wurde. Wolfsschwänze hingen von den Lehnen des Tragsessels herab, schwarzglänzendes Bärenfell bedeckte ihn, und es war so alt wie das Geschlecht des Mannes, der darauf saß: Ladon, der größte Häuptling aller Pole.

Er war ein hünenhafter, massiger Mann im besten Alter mit einem fetten Wanst. Sein Haar war so schwarz wie das Bärenfell. Auf den Schultern und der Brust wuchs ihm das schwarze Haar wie ein Pelz, ein Emblem seiner Größe.

Die anderen Männer drängten sich um ihn. Sie lechzten nach der Gunst eines einzigen Blickes. Wenn er das Wort an einen von ihnen richtete, brüstete der sich vor allen anderen mit dieser Ehrung. Wenn er die Stirn runzelte, welkten sie dahin wie ausgerissene Pflanzen. Sobald die Sänftenträger müde wurden, rief Ladon nach frischen Männern, und dann kämpften alle um einen Platz an den Tragstangen.

Nur einen Menschen gab es, der das nicht tat, nur eine Frau, die kein Gefäß war für die geheimnisvolle Macht des Mannes, närrisch genug, um nichts darauf zu geben: Karella, die Hauptfrau in der Sippe des Häuptlings, hatte es sich nicht nehmen lassen, die Männer auf ihrem geheiligten Weg zu begleiten. Sie war die bedeutendste Geschichtenerzählerin ihres Volkes und hatte sich deshalb zur Verfügung gestellt, um die Träume und die Krankheiten und andere Erlebnisse zu deuten, die die Männer im Verlauf ihrer Reinigung bei der Begegnung mit der Oberwelt haben mochten. Außerdem hielt sie es als Hauptfrau der Sippe Ladons für ihre Pflicht, ein Auge auf ihn zu haben.

Sie ging, ohne sich um die anderen zu kümmern, in einigen Schritten Abstand neben Ladon her. Kopf und Schultern waren von einem Schal bedeckt, der aus gezupftem Ziegenhaar gewebt und braun und hellbraun und gelb gefärbt war, wozu sie Zwiebelschalen verwendet hatte. Sie war eine kleine, gebeugte Frau mit einem runden Gesicht, vergnügten Augen und durchdringender Stimme, und gewöhnlich lächelte sie. Sie lief mit hurtigen, kurzen Schritten, so daß sie wie ein braunes Mäuschen durch das satte Grün der Welt zu huschen schien.

Obwohl sie und Ladon einander allem Anschein nach keine Beachtung schenkten, war beiden die Anwesenheit des anderen doch ständig auf ärgerliche Weise bewußt. Sie konnten einander nicht leiden. Ladon fand, sie sei zu neugierig und zu freimütig. Karella wiederum wußte, daß er eine Gefahr für die Folc bedeutete.

Was für eine Gefahr, war ihr während der Reinigungsrituale quälend bewußt geworden. Wieder und wieder hatte sie erlebt, wie Ladon den Männern gegenüber von seinem Sohn sprach, ihnen das Versprechen abgerungen hatte, daß sein Sohn Häuptling werden sollte, wenn er selbst stürbe; die ganze Zeit über waren die Männer unter diesem Druck und oft auf Betreiben der Geister mit Träumen zu ihr gekommen, worin verschlüsselt ein Ladon zu erkennen war, dessen Ehrgeiz nach der Weltherrschaft strebte.

Ladon war der Häuptling. Seine Macht war größer als die aller anderen im Dorf; was die Pole erarbeiteten, brachten sie ihm, und er gab ihnen, was sie brauchten, so daß die, die alt oder verwaist oder schwach oder krank oder dumm waren, doch nicht darben mußten. Aber er war Häuptling durch den Willen der Hauptfrauen, der alten Frauen, die um die Mühle herum saßen und alles wußten: Sie ernannten den Häuptling, und wenn Ladon starb, würden sie den nächsten Häuptling ernennen, nicht Ladon selbst. Falls sie nicht …

Karella empfand die Vergangenheit, soweit es Wohl und Wehe der Folc betraf, als einen tiefgründigen, wohlgeordneten Raum hinter sich; vor ihr lag eine Leere, ein Grauen, das erst noch wie die Vergangenheit geformt, gestaltet werden mußte. Wenn Ladon gegen die Sitte der Pole handelte, konnte leicht alles auseinanderfallen, die Welt sich in einen Scherbenhaufen verwandeln.

Doch das war noch nicht alles.

Die Macht des Häuptlings gründete sich auf das Blut seiner Sippe. Sie lag in den Händen seiner Familie, doch wurde sie Stufe um Stufe nicht durch die Väter vererbt, deren Samen unsichtbar, deren Fruchtbarkeit doppelgesichtig war, sondern durch die Frauen. Sie bebauten die Gärten. Sie taten die Arbeit. Sie trugen die Kinder aus. Sie und sie allein verteilten die Macht: auf dem Weg der Wahl an den Häuptling und über die engsten weiblichen Verwandten des Häuptlings an die nächste Generation der Familie. Wenn sie sich das vor Augen hielt, dann sah sie den Gang der Zeiten und die Machtordnung so fest verwoben, daß nichts sie auseinanderzureißen vermochte.

Wenn sie sich allerdings vorstellte, daß die Macht von Ladon auf seinen Sohn übergehen könnte, dann sah sie einen Abgrund, und in diesen Abgrund fiel die Macht und war verloren, und ihr nach fielen die Pole und waren ebenfalls verloren. Und da kam auch schon Ladons Sohn über die welligen grünen Hügel auf sie zugerannt.

Alle Männer bejubelten seinen Anblick. Alle liebten Ladons Sohn. Hochgewachsen und goldblond kam er mit hocherhobenen Armen leichtfüßig auf seinen Vater zugelaufen, und ihm nach kam die Schar der anderen Jungen, ein Strom von Halbwüchsigen, die riefen und winkten.

Die ganze riesige Flut der Männer kam zum Stillstand. Ladon beugte sich von seinem Tragsessel herab und begrüßte seinen Sohn mit der Freude eines Mannes, der seiner eigenen Unsterblichkeit gegenübertritt.

Karella trat näher; die anderen Männer machten ihr ehrerbietig Platz, doch Ladon bemerkte sie nicht. Er beugte sich über die andere Seite des Tragsessels hinab, drückte die Hände seines Sohnes zwischen den seinen und lächelte ihm ins Gesicht.

»Erzähl mir, was sich zugetragen hat, mein lieber Junge.«

»Nichts.« Ladons Sohn zuckte die Achseln. Sein Gesicht war hell und offen wie der Himmel und ebenso gedankenleer. »Wir haben auf dich gewartet, Opa-Ladon.«

»Wächst alles gut? Sind die Frauen zufrieden?«

»Ich glaube schon.« Der Junge hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. Sein ganzes Interesse an seiner Führerschaft kam von seinem Vater. Er hob das hübsche, lächelnde Gesicht. »Wir haben Moloquin gejagt, beinahe jeden Tag.«

Ladon grunzte, als er das hörte. Er reckte sich in der Sänfte empor und runzelte die Brauen, und dann erblickte er Karella, und sein Blick wurde stechend. Der Häuptling und die alte Geschichtenerzählerin starrten einander einen langen Augenblick an. Sie zog ihr Tuch enger um die Schultern, ihre Augen wurden schmal. Schließlich wandten beide gleichzeitig den Blick ab.

Die Prozession setzte sich wieder in Gang, und Ladons Sohn ging neben dem Tragsessel her. Die Männer in seiner Nähe sprachen liebevoll mit ihm und achteten nicht auf ihre eigenen Söhne, die, lärmig wie die Krähen, um sie herumsprangen und -rannten. Karella zog sich wieder an den Rand des Stromes zurück.

Ladons Sohn. Sie hatten versucht, ihm einen Namen zu geben – alle Jungen hatten natürlich Milchnamen, die ihre Mütter ihnen gaben, aber wenn sie ihre Mütter verließen und der Schar der Jungen beitraten, bekamen sie neue Namen. Doch keiner war an Ladons Sohn haften geblieben. Sie hatten es mit einer ganzen Reihe von Namen versucht, aber niemand hatte sich an sie erinnern können. Wenn die Folc diesen großen blonden Jungen anschauten, dann sahen sie nur eines, und so nannten sie ihn denn auch.

Als sie hingegen den anderen erblickt hatten, sahen sie zwar wiederum nur eines, und so hatten sie ihn auch genannt: Moloquin, der Unerwünschte. Doch war daraus irgendwie ein Name geworden; der Akzent lag auf der ersten Silbe, wie bei allen Männernamen, nicht auf der mittleren, wie es der Fall gewesen wäre, hätte man ihn einfach nur charakterisieren wollen. Moloquin hatte also einen Namen, so unfreundlich er auch war.

Moloquin. Sie bewegte die drei Silben im Kopf herum, und allmählich nahm der Gedanke eine klar umrissene Form an: Das war eine Möglichkeit, mit Ladon fertigzuwerden.

Sie drückte die gekreuzten Arme gegen ihr Schultertuch. Als sie einen Blick zum Himmel hinaufwarf, stellte sie fest, daß es noch eine ganze Weile hell sein würde – im Hochsommer hielt der Himmel das Licht noch lange, nachdem die Sonne verschwunden war —, und sie wußte, wo sie Moloquin finden konnte. Sie hatte Zeit und wußte, was sie wissen mußte, und es gab keinen Grund, weshalb sie es nicht versuchen sollte. Unauffällig stahl sie sich aus der Männerhorde und ging in nordöstlicher Richtung davon.

Moloquin hatte den Tag damit verbracht, über das sommerliche Hügelland zu streifen, um irgendwelche Nahrung zu finden, hatte jedoch nichts gefunden. Er hatte zwar mit einem Stein auf eine Trappe gezielt, sie jedoch, wie gewöhnlich, verfehlt, und fast hätte er mit der bloßen Hand einen Fisch gefangen, indem er untergetaucht und am Boden langsam, ganz langsam auf den grünen Umriß losgekrochen war, der reglos in einem Wasserloch unterhalb des Ufers gestanden hatte. Und dann hatte er, wieder langsam, ganz langsam, die Hände aufwärts gleiten lassen, während ihm die Lungen zu bersten drohten und er die Lippen zusammenpreßte, um die verräterischen Blasen zurückzuhalten, doch im letzten Augenblick war das Flußuntier mit einem einzigen Schwanzzucken geflohen. Und jetzt stieg er hügelan auf seinen bevorzugten Platz zu, und sein Körper war erschöpft, und er war sehr niedergeschlagen.

Auf halbem Wege zu seiner unwirtlichen Behausung kam er nahe genug am Dorf vorbei, um das Singen und die Trommeln und die Flöten zu hören und die lodernden Feuer zu sehen. Die Männer waren zurückgekehrt, und die Folc feierten ein Freudenfest.

Ausgeschlossen von allem, blieb er einen Augenblick in der Dunkelheit stehen und schaute zu und haßte sie, sosehr er sich auch nach ihnen sehnte. Er sah, wie sie einander berührten, wie sie aneinandergelehnt dastanden, Körper an Körper, und irgendwoher aus seinem tiefsten Innern stieg die Erinnerung daran auf, wie das war, jemandem nahe zu sein, von Wärme umgeben, von Armen umhüllt, geborgen. Er haßte sie dafür, daß sie ihm das verwehrten, und er sehnte sich doch danach, es wiederzufinden, bei ihnen, diese Gemeinsamkeit, diese liebende Anerkennung. Langsam schleppte er sich weiter auf die kalten Steine zu.

Als er auf den Wall hinaufgetrottet kam und in den grasbewachsenen Ring hinabschaute, wußte er sofort, daß noch jemand da war.

Er sah sie nicht gleich. Er roch sie weder, noch hörte er sie. Doch er wußte, daß irgendein anderer Mensch diesen Platz besetzt hatte, seinen Platz, und seine Nackenhaare stellten sich auf, und er fletschte knurrend die Zähne. Ein wenig geduckt, die Hände zu Fäusten geballt, schlich er sich durch die schief stehenden Steine hinein.

»Hier bin ich«, sagte die ruhige Stimme, und er machte einen Satz. Ein Kribbeln überlief ihn. Sie war ganz dicht neben ihm. Im Dämmerlicht hatte er sie völlig übersehen. Er fuhr herum und versuchte, bedrohlich auszusehen.

Sie saß dort am Fuß seines Steines, in der Höhlung, die er für sich selbst gemacht hatte, und lächelte ihm zu. Er erkannte sie sofort: Karella, die Geschichtenerzählerin, hinter der die kleinen Kinder herrannten und sie um Worte anbettelten.

»Was machst du hier?« schrie er. »Das ist mein Platz. Geh weg.«

Er kannte nicht alle Worte, die hier angebracht waren, ein paar erfand er, während er sprach. Mit den Händen fuchtelte er in der Luft herum, um ihr klarzumachen, was er meinte.

Sie rührte sich nicht. Sie saß dort mit gekreuzten Beinen, wie die Frauen saßen; ihr Körper in seiner Umhüllung war formlos, ihr Haar hatte die Farbe von Schwalbenwurzsamen. In der Abenddämmerung, die hereingebrochen war, konnte er ihr Gesicht nur umrißhaft erkennen. Sie winkte ihn mit der Hand zu sich und sagte: »Komm, setz dich zu mir und laß uns Feuer machen. Mir ist sehr kalt.«

Er runzelte die Stirn. Ihm war nicht kalt, und er machte nur selten Feuer, obwohl seine Mutter es ihn gelehrt hatte. Er verharrte unentschlossen auf den Zehenspitzen, bereit, wegzulaufen oder sich auf sie zu stürzen. Geschichtenerzählerin. Er hatte gesehen, wie die anderen sich um sie drängten, während sie erzählte, und es war ihm zwar niemals gelungen, sich nahe genug heranzuschleichen, um ihre Stimme zu hören, doch selbst aus der Ferne hatten ihre Handbewegungen und ihr Mienenspiel im Feuerschein etwas ungeheuer Eindrückliches. Jetzt beugte sie sich auf einmal vor, und in der Höhlung ihrer Hände leuchtete ein Funken auf.

Er seufzte. Das Licht zuckte über ihr Gesicht und wärmte die alte, runzlige Haut, die tiefliegenden Augen und die runzligen Lippen. Ohne es im Geringsten gewollt zu haben, trat er auf sie zu, setzte sich vor ihr nieder und teilte das Licht mit ihr.

Sie hätschelte die Funken im Zunder, indem sie sachte mit den Händen daran zupfte, damit das Feuer sich weiter ausbreitete, und dann legte sie das züngelnde Etwas in ein Nestchen aus Zweigen, griff neben sich nach weiterem Holz und fügte es hinzu. Er stellte fest, daß sie viel Holz gesammelt und alles für ein Feuer vorbereitet hatte. Sie mußte lange hier gewartet haben, und ihm wurde klar, daß sie auf ihn gewartet hatte. Das verwunderte ihn. Er selbst bedachte die Folc zwar mit seiner Aufmerksamkeit, doch daß sie von irgendjemandem erwidert wurde, war neu für ihn.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Erscheinungsjahr
2024
ISBN (eBook)
9783989522046
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Oktober)
Schlagworte
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Titel: Stonehenge: Säulen des Himmels