Lade Inhalt...

Der Gang nach Canossa

Historischer Roman | Opulenter Historienroman über König Heinrich IV. und seinen Kampf gegen den Papst

©2024 683 Seiten

Zusammenfassung

Ein König im Kampf zwischen Liebe und Treue …

König Heinrich IV. wächst in enger Kinderliebe zu seiner Cousine Mathilde von Canossa auf. Von einer Wahrsagerin wird ihnen eine gemeinsame Zukunft prophezeit – doch bald schon scheint sich die Weissagung in einen Fluch zu verwandeln: Eine tödliche Krankheit rafft Heinrichs Vater, den Kaiser, dahin und die Kinder werden getrennt. Kaum hat Heinrich den Thron bestiegen, muss er eine andere heiraten – doch er hört nicht auf, um Mathildes Liebe zu kämpfen. Der Streit mit der römischen Kurie droht ihn schließlich alles zu kosten: Heinrich wird vom Papst exkommuniziert. Um seinen Herrschaftsanspruch zu bewahren, tritt er den beschwerlichen Bußgang nach Canossa an. Hier muss er sich entscheiden: Zwischen Ehre und Macht – oder Schande und Liebe …

»Dieses spannende und farbenprächtige Epos wird erzählt von einem der größten Könner des historischen Romans.« Literatur-Report

Ein großer historischer Roman über Treue und Verrat, Erniedrigung und Kampf und die Suche nach der wahren Liebe – für alle Fans von Hilary Mantel und Ken Follett.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

König Heinrich IV. wächst in enger Kinderliebe zu seiner Cousine Mathilde von Canossa auf. Von einer Wahrsagerin wird ihnen eine gemeinsame Zukunft prophezeit – doch bald schon scheint sich die Weissagung in einen Fluch zu verwandeln: Eine tödliche Krankheit rafft Heinrichs Vater, den Kaiser, dahin und die Kinder werden getrennt. Kaum hat Heinrich den Thron bestiegen, muss er eine andere heiraten – doch er hört nicht auf, um Mathildes Liebe zu kämpfen. Der Streit mit der römischen Kurie droht ihn schließlich alles zu kosten: Heinrich wird vom Papst exkommuniziert. Um seinen Herrschaftsanspruch zu bewahren, tritt er den beschwerlichen Bußgang nach Canossa an. Hier muss er sich entscheiden: Zwischen Ehre und Macht – oder Schande und Liebe …

Über den Autor:

Frederik Berger (geboren 1945 in Bad Hersfeld) studierte Literatur- und Sozialwissenschaften und lebte einige Zeit im englischen Cambridge und in der Provence. Er arbeitete als Literaturwissenschaftler und Journalist, bevor er hauptberuflich Schriftsteller wurde. Neben Gegenwartsromanen, Sachbüchern und zahlreichen Aufsätzen verfasste er verschiedene historische Romane über den Glanz und die Schatten europäischer Adelsfamilien. Frederik Berger reist viel und ist begeisterter Fotograf. Er lebt mit seiner Frau in Schondorf am Ammersee.

Die Website der des Autors: www.frederikberger.de

Der Autor auf Instagram: www.instagram.com/fritzgesing/

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine historische Romantrilogie »Das Siegel der Farnese« mit den Bänden »Die Geliebte des Papstes«, »Die Tochter des Papstes« und »Die Kurtisane des Papstes«. Außerdem erschienen seine opulenten historischen Romane »Die heimliche Päpstin«, »Die Provençalin«, »Der Gang nach Canossa«, »Die Schwestern der Venus«, »Die Madonna von Forlì« und »Der Botschafter des Kaisers«.

***

eBook-Neuausgabe November 2024

Dieses Buch erschien bereits 2004 unter dem Titel »Canossa« bei Aufbau Taschenbuch

Copyright © der Originalausgabe 2004 Rütten & Loening Berlin GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/John Erickson, 4zevar und die Digitale Bibliothek München

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3-98952-489-7

***

dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Frederik Berger

Der Gang nach Canossa

Aus den geheimen Annalen des Lampert von Hersfeld
Historischer Roman

dotbooks.

WIDMUNG

Für Patricia

MOTTO

Heinricus imperator augustus

spes mea et unicum solacium fuit,

gloria Romae, decus imperii, lucerna mundi.

Der erhabene Kaiser Heinrich

war meine Hoffnung und mein einziger Trost,

der Ruhm Roms, die Zierde des Reichs, das Licht der Welt.

Vita Heinrici IV. imperatoris

ERSTER TEIL

Die verratene Kindheit

KAPITEL 1

Speyer 1055

Es war ein Tag, wie der kleine Heinrich ihn liebte: Dicke Schichten pulvrigen Schnees bedeckten den Boden, und vom Himmel tanzten die Flocken herab, daß es eine Lust war, ihnen zuzuschauen. Immer wieder fing der Wind sie auf, trieb sie vor sich her, ließ sie schließlich frei, so daß sie sich frech auf den rötlich schimmernden Bart des Vaters niederließen oder die vermummte Mutter und die frierende Tante Beatrix bepuderten. Einige Flocken legten sich kalt und kitzlig auf Heinrichs Lippen, er prüfte ihren wäßrigen Geschmack und versuchte, andere zu fangen. Da ihm dies selten gelang, nahm er eine Handvoll Schnee und warf sie auf Mathilde, seine Cousine, die ihm lachend ein Bein stellte, so daß sie beide umeinander kugelten.

Die Erwachsenen wirkten weniger fröhlich als sie. Der Vater, Kaiser Heinrich der Dritte, schaute mit tiefgefurchter Zornesfalte auf sie herab und forderte seinen Sohn barsch auf, sich gesittet und würdevoll zu verhalten, wie es sich für einen künftigen Herrscher von Gottes Gnaden gehöre. Kopfschüttelnd rief Tante Beatrix »Laß doch die Kinder spielen, freue dich lieber daran, wie gut sie sich verstehen« und versuchte, sich freundschaftlich bei ihm unterzuhaken.

Der Vater knurrte, die Mutter bedachte sie mit einem verärgerten Blick und forderte die noch immer im Schnee liegenden Kinder auf, sich endlich zu erheben. Heinrich sprang empor, zog Mathilde auf die Beine und wollte zum Hafen voraus rennen. Der Vater jedoch griff seine Hand und hielt ihn fest.

Als Heinrich nun den steifen Schritt der Leibwächter nachahmte und den Kinderfrauen zuwinkte, die ihnen mit dem restlichen Hoftroß in achtbarer Entfernung folgten, hatte der Vater offensichtlich genug von seiner Zappelei: Er nahm seinen Kopf zwischen die Hände und richtete ihn auf die riesigen Gemäuer der noch nicht fertiggestellten Basilika aus, die sich hinter ihnen dunkelmächtig erhob. Gehorsam ließ Heinrich seinen Blick wandern über die weißen Hügel, unter denen sich das Baumaterial verbarg, zu den Gerüsten, die wie kahle Äste in den Himmel ragten, und den Steingebirgen, die sich in schier unendlicher Höhe im Flockengestöber verloren.

»Dies wird der Dom, der Gottes Größe und den Ruhm des salischen Geschlechts verkünden soll«, erklärte der Vater mit ernster Stimme. »Dein Großvater, Kaiser Konrad, hat ihn zu bauen begonnen, ich will ihn vollenden, und du sollst ihn erhalten. Wir alle werden hier unsere letzte Ruhestätte finden.«

Heinrich versuchte, brav zu nicken, weil er erwartete, auf diese Weise von der eisernen Klammer der väterlichen Hände befreit zu werden. Die Mutter vor ihm bekreuzigte sich, während Tante Beatrix hell auflachte und spöttisch rief: »Hoffentlich ruhen wir noch nicht so bald.«

Abrupt ließ ihn der Vater los und warf ihr einen Blick zu, der sie verstummen lassen sollte. Sie zog die Augenbrauen hoch und schüttelte verständnislos den Kopf.

Endlich war Heinrich frei. Doch während Mathilde einen Purzelbaum nach dem anderen schlagen durfte, winkte ihn seine Mutter mit verkniffenen Lippen zu sich und befahl ihm, an ihrer Seite zu bleiben. Tante Beatrix hatte sich währenddessen erneut bei dem Vater untergehakt und sprach auf ihn ein: »Die beiden Kinder passen zusammen, wie vom Schöpfer füreinander geschaffen. Ich kann nicht verstehen, warum du dich noch immer sträubst.«

»Mathilde ist zu alt für unseren Sohn«, mischte sich die Mutter ein.

»Das ist nun wirklich kein Grund, Agnes. Du mußt zugeben ...«

»Außerdem sind sie zu nah miteinander verwandt. Darauf liegt kein Segen.«

Tante Beatrix verdrehte die Augen.

»Vergiß nicht«, fuhr die Mutter in ungewohnt belehrendem Ton fort, »daß die Politik eine Rolle spielt. Hättest du nicht deinen bärtigen Gottfried geheiratet ...«

»Es war eine Heirat aus Liebe, meine Gute. Dies kannst du vielleicht nicht verstehen, aber dein Gatte müßte eigentlich ...«

»Ich will nichts mehr davon hören«, unterbrach sie scharf der Vater. »Es ist entschieden.«

»Heinrich, Lieber ...« Die Stimme von Tante Beatrix wurde samtweich.

»Du hörst doch, es ist entschieden.« In den belehrenden Ton der Mutter mischte sich leiser Triumph.

»Kein Wort mehr!« donnerte der Vater.

Tante Beatrix löste sich von ihm und rief: »Was ist dieser Mann für ein sturer Ochse!«

»Wie nennst du mich?«

»Sturer Ochse!« wiederholte Tante Beatrix, wandte sich mit einem hochmütigen Augenaufschlag von ihm ab und legte betont freundschaftlich den Arm um die Schultern der Mutter. »Gütiger Gott, ich müßte ihn ja kennen!«

Vertraulich führte sie die Mutter zur Seite, die sich zwar ängstlich nach dem Vater umschaute, den kleinen Heinrich jedoch einfach stehenließ.

»Wir müssen gemeinsam ...«, hörte er Tante Beatrix noch sagen, bevor der Vater ihnen nachbrüllte: »Weiber, was versteht ihr schon von Reichspolitik und Herrschaftssicherung!«

Die Erwachsenen waren abgelenkt! Heinrich sah eine Möglichkeit, ihrem allzu bekannten Streit und dem drohenden Klammergriff des Vaters zu entkommen: Rasch zog er Mathilde auf die Beine und rannte, sie hinter sich herziehend, durch den tiefen Schnee in Richtung Hafen. Er hörte die Mutter noch mit schwacher Stimme rufen, sie sollten zurückkommen, und den Vater zornig seinen Namen schreien. Kurz schaute er sich um: Zwei Leibwächter setzten sich mitsamt ihren Schilden und klappernden Rüstungen in Bewegung, um sie einzufangen. Doch nach wenigen Schritten rutschte der eine aus, der andere stolperte über sein Schwert und klirrte zu Boden. Heinrich mußte, wie auch Mathilde, lachen und lief weiter in das dichter werdende Flockengewirbel. Als er erneut zurückblickte, sah er nur noch schwache Schemen, die wie Geisterwesen zu tanzen schienen und deren Stimmen immer wieder der Wind verschluckte.

Am Fluß stießen die beiden auf eine Gruppe von Menschen, die sich, ohne sie zu beachten, an den eingefrorenen Booten zu schaffen machten. Lediglich von Hunden wurden sie angebellt. Heinrich bellte zurück und zog Mathilde lachend hinter einen Stapel Holz.

»Dein Vater wird böse sein, wenn wir uns verstecken. Bei dem Schneetreiben findet uns niemand, und wir könnten uns verirren.«

Heinrich fürchtete sich nicht vor dem Verirren; er war froh, der schlechten Stimmung wie auch der unablässigen Aufsicht und Erziehung entronnen zu sein. Außerdem war er gern mit seiner Spielgefährtin allein. Im Gegensatz zu seinen braven Schwestern, die entweder am Rockzipfel der Mutter und der Kinderfrauen hingen oder vor dem Kamin mit irgendwelchen Stofffetzen und Holzpuppen hantierten, ließ sich Mathilde auf seine Balgerei ein, sie liebte Verstecken und Fangen und genoß wie er den Schnee, obwohl sie bisher in Italien gelebt hatte, wo es viel weniger schneite, wie Heinrich bereits wußte.

Sie alle waren kürzlich aus Mathildes Heimat an den Rhein zurückgekehrt. Ihr Stiefvater Gottfried, genannt der Bärtige, der frühere Herzog von Lothringen, hatte den Kaiser, Heinrichs Vater, verraten. Dieser war unverzüglich mit einem Heer über die Alpen geeilt, um den Abtrünnigen zu bestrafen, und es folgten einige Kämpfe um Mantua und Canossa. Gottfried der Bärtige floh ohne Frau und Stieftochter zu seinem Stammsitz nach Verdun, und weil der Vater seinen Widersacher nicht fangen konnte, nahm er Tante Beatrix, die Markgräfin von Tuszien-Canossa, und ihre Tochter Mathilde als Geiseln mit nach Deutschland – so hatte er es ihm erklärt. Die beiden Geiseln trugen allerdings keine Ketten und Fesseln, im Gegenteil: Sie gehörten zum Hof und speisten mit an der kaiserlichen Tafel.

Warum dies alles so war, verstand Heinrich nicht recht. Er mußte aber brav ja sagen, als der Vater ausrief: »Wir sind von Verrätern umgeben, mein Sohn, die Welt ist eine Grube voller Schlangen. Nimm dich vor ihnen in acht!«

Ob er Tante Beatrix meinte – oder gar die Mutter?

»Komm!« rief Heinrich und rannte los. »Wir verstecken uns dort hinter den Bäumen.«

Mathilde folgte ihm zögernd.

Der Auwald, der sich bis an den Hafen heranschob, war wie alles im Frost erstarrt. Den Rhein konnte man zu Fuß überqueren und auch die Sumpfgebiete betreten.

Heinrich warf einen letzten Blick zurück. In der Ferne bewegten sich die Schemen der Leibwächter und Kammerfrauen. Man rief erneut nach ihnen. Mathilde wollte antworten, doch Heinrich legte ihr die Hand auf den Mund, kletterte dann über krachende Äste und kämpfte sich mit ihr ein Stück tiefer in den Wald hinein.

Als die beiden auf eine schmale Schneise stießen, flüsterte er: »Hast du Angst vor Wölfen und Bären? Und den bösen Geistern des Waldes?«

Unsicher schüttelte sie den Kopf, griff seine Hand und wollte ihn zurück zum Vater und den anderen ziehen. Heinrich entwand sich ihr, legte den Finger auf die Lippen und lauschte. Ein wattiges Dämmergrau verschluckte das gelegentliche Fiepen, Rufen oder Schreien verborgener Waldwesen. Um sie herum ein Gewirr bizarrer Baumglieder, schräger Äste, abgebrochener Zweige. Schauten sie genauer hin, entdeckten sie erstarrte Trolle und Dämonen, die nur darauf warteten, sich aus dem Hinterhalt auf sie zu stürzen.

»Heinrich, wir müssen zurück!« Mathilde zog an seinem Arm.

»Der Hafen liegt aber dort!« Heinrich wies in die entgegengesetzte Richtung.

Mathilde schüttelte den Kopf. Sie zerrte ihn hinter sich her, begann sogar zu laufen. Als sie, außer Atem, ein kurze Pause einlegten, hatten sie den Hafen noch immer nicht erreicht. Aus der Schneise war ein verlorener Waldpfad geworden.

Sie hatten sich verirrt!

In Mathildes Augen flackerte Panik auf. Wortlos rannten sie den Weg zurück. Keuchend folgten sie den eigenen Spuren, bis diese unter dem fallenden Schnee verschwunden waren. Mathilde rief nach ihrer Mutter, und Heinrich versuchte zu pfeifen – ohne Erfolg.

Die Schneise mußte doch irgendwohin führen! Zumindest zum Fluß, über den man den Hafen gefunden hätte. Stumm stapften sie, Hand in Hand, durch das Labyrinth des erstarrten Walds. Heinrich begann zu frieren. Mathildes Lippen waren blau angelaufen und bewegten sich im lautlosen Gebet. Aus der Ferne drang ein langgezogenes Heulen herüber, dem ein zweites Heulen antwortete. Als wenige Schritte von ihnen entfernt das Gehölz knackte, schrien sie vor Schreck auf. Ein schweres dunkles Ungeheuer erhob sich unter Schnauben und Keuchen. Sie begannen erneut zu rennen, bis ihnen die Lungen schmerzten.

Plötzlich roch Heinrich etwas Vertrautes – Rauch! Die ferne Ahnung eines Feuers, die Wärme des Kamins! Hatten sie eine menschliche Behausung erreicht und waren in Sicherheit?

Vor ihnen öffnete sich eine kleine Lichtung, und auf einer Aufschüttung duckte sich eine Hütte, aus deren Dachöffnung leichter Rauch quoll. Obwohl Mathilde ihn zurückhalten wollte, stürzte Heinrich laut rufend auf den Eingang zu: »Öffnet die Tür!« Er pochte mit seinen schmalen Fäusten an das Holz.

Zuerst hörte man ein unwilliges Stöhnen, als erwache ein Drache, dann knarrte tatsächlich die Türe auf. Heinrich war so froh, endlich der weglosen Bedrohung entronnen zu sein, daß er seine Ängste vergaß. Mathilde stand zitternd an seiner Seite, drückte seine Hand.

Ein in Pelze gehüllter, zottlig verfilzter Waldmensch baute sich vor ihnen auf. Vor lauter Haaren und Bart konnte man kaum ein Gesicht erkennen.

»Wo kommt ihr Kinder denn her?« Eine tiefe, kollernde Stimme. »Seid ihr ausgesetzt worden?«

»Wir haben uns im Wald verirrt«, antwortete Mathilde. »Eigentlich sind wir nur zum Hafen gerannt ...«

»Zum Hafen? Der ist weit. Paßt niemand auf euch auf?« Der Mann schüttelte verwundert den Kopf. »Dann kommt herein und wärmt euch!«

Vorsichtig traten sie in einen rauchigen, schwach beleuchteten Raum. An der Feuerstelle hockten zwei Gestalten, von denen eine sich hustend erhob. Die andere drehte einen Fleischspieß und stieß seltsame Geräusche aus, die wie das Wiehern eines Esels klangen.

Die hustende Gestalt, eine in Pelzlumpen gehüllte Frau, bückte sich zu ihnen herab und streifte ihnen die Kapuze vom Kopf, um sie besser betrachten zu können, lächelte und entblößte dabei ihre Stummelzähne. »Ihr seid kalt wie ein Eiszapfen«, rief sie, schob sie ein Stück zum Feuer und reichte ihnen einen Becher dampfenden Kräutersuds.

Das heiße Getränk tat Heinrich gut und dämpfte die zunehmende Angst. Mathilde neben ihm klapperte mit den Zähnen. Er hatte von seiner Amme gehört, daß in den Wäldern böse Geister, bestrafte Räuber und fromme Eremiten hausten, außerdem Hexen, die Kinder fraßen. Er wußte nicht, ob er ihr glauben sollte. Doch auch der Vater betonte, nicht ohne zu grinsen, im Wald müsse ein Mann, wie einst Siegfried, den Drachen bekämpfen und sich gleichzeitig vor Verrätern in acht nehmen, die ihm einen Speer hinterrücks zwischen die Schulterblätter stoßen könnten.

Vorsichtig schaute Heinrich nach dem seltsamen Wesen, das den Fleischspieß drehte und dessen Gesicht an einen verdreckten jungen Mann denken ließ, mit starken Augenbrauen unter einer fliehenden Stirn und einem Pferdegebiß, das diese tierischen Laute ausstieß, die wohl Lachen sein sollten. Hinter seinem Kopf wölbte sich ein Stiernacken, der in einen riesigen Buckel überging!

Die Frau reichte ihnen ein Stück Brot, der Mann säbelte für sie zwei Scheiben Fleisch vom Spieß. Heinrich nahm das Brot und biß hinein. Jetzt erst spürte er seinen Hunger. Ein zweiter Becher wurde ihm gereicht, er schlürfte das Kräutergetränk und spülte das trockene Brot hinunter. Das Fleisch schmeckte zart und gut.

Allmählich wagte er, ebenso wie Mathilde, sich genauer umzusehen. An den Holzwänden hingen neben Pelzen und Fangeisen eine Kutte, wie sie Mönche trugen, sowie ein glänzendes Kruzifix; auf einem in die Wand eingelassenen Regal lagen mehrere Bücher. Sein Blick blieb an dem blutverschmierten Blatt einer schweren Axt hängen, das in einem Holzbock steckte, und jäh fuhr ihm durch den Sinn: Wenn man sie nur fütterte, um sie später zu schlachten und verschlingen zu können ...?

»Wer seid ihr?« fragte der zottlige Mann, der ihnen geduldig beim Essen zuschaute.

Heinrich schluckte seinen letzten Bissen Brot, richtete sich auf und erklärte: »Ich bin König Heinrich.«

Bevor er ergänzen konnte: »Der Sohn des Kaisers«, brach der Zottelmann mitsamt seiner Frau in Gelächter aus. »O guter Gott, der König! Welcher Wink des Schicksals!« Er prustete vor Lachen. Der bucklige Stiernacken wieherte mit.

»Allerdings ein wenig geschrumpft«, stieß der Waldmensch aus, noch immer lachend. »Zwei Königskinder, und sie sind zusammen gekommen, verloren und hungrig!« Er versuchte, wieder ernst zu werden, und bückte sich zu ihnen herab: »Und wer bin ich, ihr Engelchen?« Spott stand in seinen Augen, als er vor Heinrich das Segenszeichen machte, sich reckte und ausrief: »Ich muß der Papst sein!«

KAPITEL 2

Speyer 1055

Vor Kälte und überstandenem Schrecken zitternd, lag Mathilde in ihrem weichen Nachtlager aus Stroh unter mehreren Schichten schwerer Wolldecken. Die Mutter an ihrer Seite hatte ihre Hand gehalten, schien jedoch eingeschlafen zu sein und schnarchte leise. Eine kleine Kerze flackerte vor sich hin und ließ an den kahlen Wänden Gespenster tanzen. Mathilde hatte alle Gebete und Psalmen, die sie auswendig wußte, aufgesagt, aber Gott der Herr, den sie aus den Tiefen ihrer blutigen Schrecken rief, schien ihre verängstigte Stimme zu überhören. ER vertrieb die Gespenster nicht, die Bilder von dunkel schimmernden oder in grellem Weiß überstrahlten Wäldern. Vor ihren Augen sirrten Pfeile von der Sehne, drangen tief ins Fleisch, und Blut schrieb eine Botschaft in den Schnee, die sich langsam im Flockengestöber verlor, als der Leichnam hinweggezerrt wurde.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Erscheinungsjahr
2024
ISBN (eBook)
9783989524897
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (November)
Schlagworte
Historienroman Historischer Roman 11. Jahrhundert Mittelalter-Roman Historisches Epos Canossa-Roman Italien-Roman Ken Follett Hilary Mantel Rebecca Gablé eBooks
Zurück

Titel: Der Gang nach Canossa